Der Feind

Sie hatten alles mit angesehen. Von der Galerie hoch über den Pulten hatten Carter, Olivia und Ashok genau beobachten können, was die Rebellen unten im Transitraum angestellt hatten. Und nun war das, was sich Carter bis vor Kurzem nicht einmal im Traum vorzustellen gewagt hatte, Wirklichkeit geworden. Offenbar gab es diese mythischen Planetenportale wirklich und diese Rebellen hatten es irgendwie bewerkstelligt, eines von ihnen zu aktivieren.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Olivia leise.

Carter musste sich eingestehen, dass auch ihm gerade nicht viel in den Sinn kam. Er blickte zu Ashok, der mit zugeklebtem Mund und verbundenen Armen und Beinen an einem der Geländer gefesselt war. Der arme Kerl war sich so sicher gewesen, dass seine Kameraden Carter und Olivia entdecken würden, und nun schienen sie selbst alle tot zu sein. Das war zumindest Carters Vermutung, denn die mörderische Druckwelle, die vom Portal ausgegangen war, hatte die Wände des unterirdischen Komplexes bedrohlich zum Wackeln gebracht, und auch sie oben auf der Galerie ordentlich durchgeschüttelt. Glücklicherweise hatten die Blitze sie verschont.

»Ich denke«, begann Carter, »wir gehen da jetzt runter, schnappen uns dieses Artefakt und sehen zu, dass wir hier von hier verschwinden.«

Olivia sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

»Das klingt fast zu einfach, um wahr zu sein«, sagte sie. »Mal im Ernst, abhauen ist ‘ne feine Sache, Carter. Aber dieses Ding dort aus dem Pult ziehen? Auf so eine irre Idee würde nicht einmal ich kommen. Hast du gesehen, was das mit denen da unten gemacht hat?«

»Wie kann man das nicht sehen?«

»Ich meine ja nur, dieses Portal, wenn es überhaupt eines ist, ist aktiv und wir haben keine Ahnung von der Gefahr, die von ihm ausgeht. Oder der Strahlung, oder was auch immer!«

»Umso wichtiger ist, es wieder zu deaktivieren, Olivia.«

Sie stand auf und verschränkte die Arme. Carter musste zugeben, dass sie ihm gefiel, wenn sie ihn so zornig anblickte.

Er fügte hinzu: »Die Rebellen verfolgen mit der Öffnung des Portals ein bestimmtes Ziel. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine Humanisten im klassischen Sinne sind, und mit ihrer Aktion einen Frieden zwischen ihnen und der Allianz erwirken wollen.«

»Sondern?«

»Sondern ein einseitiges Machtverhältnis zu ihren Gunsten.«

»Das hast du schön ausgedrückt.«

»Olivia«, sagte Carter eindringlich. »Diese Leute dort unten haben eine gefährliche Sache getan und dort in dem Pult steckt das Artefakt, das mir in New Caledon durch die Lappen gegangen ist. Ich bin nicht hier, damit ich es wieder verliere!«

Sie blies die Luft aus und blickte zur Seite. »Fein, stehlen wir den Rebellen dieses Ding und schließen das Portal. Los gehts.«

Carter musterte sie ausgiebig. War sie etwa beleidigt? Gut möglich, doch so lange sie bei ihm war, und ihm half, würde er nichts sagen. Sie war immerhin smart genug, um zu begreifen, dass ihre Verbrecherakte an seinem Plan hing.

»Also dann, Ashok«, sagte Carter mit einer gewissen Schadenfreude. »War nett, dich kennengelernt zu haben. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder.«

Carter meinte, hinter dem Klebeband über Ashoks Mund etwas ausgemacht zu haben, was nach ›Fick dich‹ klang. Er wollte Ashok aber gern die Demütigung ersparen, indem er ihm den Streifen vom Mund riss und Ashok lautstark seinen Unmut kundtun konnte. Er ließ den Rebellen ans Geländer gefesselt zurück und stand auf.

Gemeinsam mit Olivia stieg er die Treppe hinab, die sie hinaufgeflohen waren, als die Rebellen den Raum betreten hatten. Unten angekommen verlangsamte Carter seinen Gang plötzlich, als er feststellte, dass die Stufen dicht neben dem Portal endeten. Das tiefe Surren aus dem Innern der gewaltigen Maschine ließ seine Nackenhaare sich aufstellen. Carter sah zu dem mächtigen Ring auf, in dessen Mitte eine undurchdringliche silberne Flüssigkeit waberte.

»Was meinst du, ist das?«, fragte er.

»Sehe ich aus wie eine Physikerin?«

Er winkte ab, zückte seine Waffe und schlich den Pulten entgegen. Am Boden unter ihm lag eine Wachfrau. Sie trug denselben Anzug wie Ashok und das gleiche Gewehr. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund stand weit offen, und überhaupt sah diese Person erschreckend leblos aus. So froh Carter über diesen Umstand war, so schrecklich war es jedes Mal, über Leichen hinwegzusteigen.

Jeder Job hat seine Schattenseiten, dachte er sich.

Trotz des intensiven Dröhnens konnte er seinen aufgeregten Atem hören, seine nervösen Schritte, und es kam ihm vor, als sei er auf einer Solo-Mission der ›Rascals‹, der letzte Überlebende seiner Einheit auf dem Weg, das Unheil abzuwenden. Carter verdrängte diesen Gedanken. Jetzt war nicht die Zeit für Sentimentalitäten, und außerdem würde sich Snake schon gut um seine neue Einheit kümmern.

Auch die Kerle, die wie Wissenschaftler oder Ingenieure aussahen, wirkten alles andere als lebendig, fand Carter. Die, die nicht von der Druckwelle erfasst und fortgeschleudert worden waren, langen mit ihren Gesichtern auf den Pulten inmitten der Schaltstellen und Tastaturen. Irgendwo über dem Chaos hörte er schwache Hinweistöne, vermutlich Dialogmeldungen der Computerprogramme, die vergeblich auf eine Handlung ihrer Anwender warteten. Olivia trat an Carter vorbei und sah sich um.

Sie sagte: »Die Tür, durch die wir gekommen sind, scheint der einzige Zugang zu sein. Ich schlage vor, ich öffne sie in der Zwischenzeit und du beeilst dich mit deiner hirnrissigen Idee.«

»Du solltest dringend darauf achten, wie du mit einem Polizisten redest.«

»Ich rede, wie ich will, kapiert?«

Da war er wieder, dieser zornige Blick unter dem dunklen Pony. Carter nickte, als Zeichen, dass er Olivias Unabhängigkeit akzeptierte. Doch sie drehte sich flink um, wobei ihr Pferdeschwanz lebhaft mitschwang, und schritt erhobenen Hauptes entlang der Pulte und der toten Rebellen auf das Tor am Ende der Halle zu.

Carter sah ihr noch einige Sekunden nach, bevor er sich dem aktiven Portal und der Kanzel zuwandte, wo der leblose Körper des Penjagas lag. Zumindest hatte Ashok gesagt, bevor Olivia ihm das Maul gestopft hatte, dass dieser Kerl der Penjaga war. Olivia wiederum war erstaunt gewesen, denn für sie war dieser Kerl ihr Mittelsmann gewesen. Wenn dem so war, hatte sie dem Rebellenoberhaupt in Tenggara persönlich den gestohlenen Koffer ausgehändigt, ohne es zu wissen.

Carter trat in die Kanzel und so, wie der Rebellenanführer da zu seinen Füßen lag, wurde er den Eindruck nicht los, dass dieser Penjaga nicht mehr war als das fanatische Oberhaupt einer pseudoreligiösen Sekte.

Vorsichtig stieg Carter über den Leib hinweg. Sicher, der Mistkerl war nicht mehr am Leben, doch Carter hatte dennoch Respekt vor den Toten. Der Penjaga trug die Kleidung eines einfachen Wachmanns, und sah aus, als kämen seine Vorfahren aus China. Er war gut 10 Jahre älter als Carter aber von überraschend kräftiger Statur.

Er überwand sich und setzte seinen Fuß über den Mann. Im grellen Gegenlicht des aktiven Portals sah Carter sein Ziel. Mit etwas Glück konnte er das aus dem Pult ragende Artefakt schnell herausziehen. Er steckte seine Waffe ein und legte vorsichtig seine Hände darauf. Es war warm und er fühlte an der Struktur, dass es sich tatsächlich um einen Stein handeln musste.

Wie zur Hölle kann ein Stein einen solchen technischen Apparat in Gang setzen?, überlegte er.

Er zog daran, spürte jedoch einen Widerstand, so, als hielte ein kräftiger Magnet den Stein an seiner Position. Carter stemmte beide Beine in den Boden und begann, am Artefakt zu zerren. Im gleichen Augenblick hörte er Olivia vom Ende der Halle etwas rufen.

»Oh, mein Gott, Carter! Beeil dich. Da ist etwas im Portal.«

Erschrocken hob er den Blick. Wenige Meter vor ihm, in der silbrig blauen Masse, erkannte Carter etwa ein Dutzend Schatten. Wie war das möglich? Unzählige Fragen fluteten Carters Verstand. Zuvor waren sie ihm nicht gekommen, weil die Ungeheuerlichkeit der Existenz dieses Objekts sie nicht zugelassen hatte.

Wohin führte dieses Portal? Was befand sich auf der anderen Seite? Was planten die Rebellen in Wirklichkeit?

Panik stieg in ihm auf. Die Sorge, die ganze Sache könnte größer sein, als er befürchtet hatte, schien sich zu bewahrheiten. Dass er allerdings mittendrin steckte, beunruhigte ihn noch mehr. Carter zog mit roher Gewalt an dem Stein, achtete aber gleichzeitig darauf, was am Portal geschah.

Die Silhouetten erschienen ihm auf den ersten Blick menschlich. Mehr erkannte er nicht, da das grelle Licht eine genauere Beobachtung verhinderte. Was er aber sah, war das große schwebende Objekt hinter den Personen. Es schien eine Art Gleiter oder Raumschiff zu sein, zumindest ließ die Form dies vermuten. Am Objekt strahlten und blinkten kräftige rote Lichter, die sich über das gleißende Scheinen des Portals hinwegsetzten.

Unter Carter summte es plötzlich, und mit Schrecken musste er feststellen, dass sich eine Rampe zum Portalring hin ausklappte.

»Die wollen hierher!«, hörte Carter sich sagen.

»Schalt‘ das verdammte Ding ab!«, rief Olivia herüber.

Er biss die Zähne zusammen. Bisher hatte sich nie jemand darüber beschwert, dass Carter zu schwach sei. Im Gegenteil, seine Muskeln waren in brenzligen Situationen immer wieder hilfreich gewesen, wie zuletzt bei der Verfolgungsjagd in New Caledon. Aber dieser Stein schien sich mit einer Kraft im Pult zu befinden, die weit über Carters Fähigkeiten hinausging. Plötzlich spürte er eine Hand an seinem Bein.

Der Penjaga!, schoss es ihm durch den Kopf.

Im Gegensatz zu Carters Überzeugung war der Kerl zu seinen Füßen überaus lebendig. Und er blickte ihn mit einem Zorn an, der ihm klarmachte, dass es für ihn nur eine Lösung dieses Konflikts gab. Carter ließ den Stein los, wollte nach seiner Waffe greifen. Doch der Penjaga war schneller. Er umklammerte Carters Beine und riss ihn zu Boden.

»Carter!«, hörte er Olivia rufen. »Wir haben keine Zeit für diese Spielchen! Mach den Typen fertig und komm!«

»Du gehst nirgendwohin!«, knurrte der Rebell und erhob sich über ihm.

Carter verpasste ihm einen Kinnhaken, rappelte sich auf und kämpfte sich aus der Kanzel. In diesem Augenblick berührte die Rampe die schillernde Fläche des Portals und drang gut einen Meter in sie hinein. Unvermittelt traten die ersten Personen heraus und Carter stutzte.

Die dunklen Kampfanzüge, die sie trugen, waren keine, die er kannte. Sie sahen überaus modern aus, wie ein leichtes Exoskelett mit darunter befindlichen Hartschalenteilen. Die schwarzen Helme waren vollständig geschlossen und dort, wo die Augen waren, leuchteten zwei große helle Strahler. Die Personen waren hochgewachsen, doch gleichzeitig wirkte ihr Körperbau krumm.

Das Furchtbarste jedoch waren die schweren Gewehre in ihren Händen. Jeder Idiot sah sofort, dass, egal woher diese Kerle kamen, sie keinerlei friedliche Absichten verfolgten. Carter musste sie aufhalten. Doch vor dem Pult, in dem das Artefakt steckte, erhob sich der Penjaga. Er hatte eine Pistole gezückt und Carter blieb nur noch, sich zur Seite zu werfen.

Knisternd schmolzen sich Laserstrahlen in das Kommandopult, hinter dem er gelandet war. Die Lage schien aussichtslos, doch noch glaubte Carter daran, das Artefakt in seine Finger bekommen zu können. Aus Richtung des Portals hörte er schnelle Schritte und die verzerrten Stimmen von Funkgeräten. Mit gezogener Waffe kam er auf seine Beine, lugte hinter dem Pult hervor. Wie eine Löwin ihre Brut beschützte, stand der Penjaga vor dem Pult. Er würde den Stein nicht hergeben.

Carter kam nicht dazu, zu feuern. Von den Seiten drangen die mysteriösen Kämpfer heran, ihre Gewehre in seine Richtung ausgestreckt. Ein weiterer Laserstrahl traf das Pult und Carter versteckte sich. Es war zwecklos. Er stieß einen Wutschrei aus, sprang auf, feuerte auf alles, was sich vor dem Portal bewegte, und rannte zu Olivia.

»Erschießt ihn!«, hörte er die gellende Stimme des Penjagas hinter sich.

Doch Carter war nicht hier, um zu sterben. Sein Körper gab alle Reserven frei, die er hatte. Olivia hatte sich draußen vor dem offenen Tor verschanzt und gab ihm Deckung, ihre roten Laserstrahlen schossen dicht an Carter vorüber. Gleichzeitig verfehlte ihn das feindliche Feuer nur um Haaresbreite.

»Schließ das Tor!«, brüllte er Olivia entgegen.

Widerwillig verschwand sie in der Deckung und nur einen Augenblick später begann das große Tor des Transitraums zuzufahren. Carter hatte nur noch Sekunden. Die Türhälften standen noch einen halben Meter auseinander, als Carter einen Satz machte, sich beim Sprung auf die Seite legte. Mit hochgerissener Waffe feuerte er auf seine Verfolger und tauchte durch den Spalt. Mit der Schulter schlug er auf den steinernen Boden des Korridors, als die Tür sich schloss und das Laserfeuer erstarb.

Der Schmerz hatte noch nicht seinen Höhepunkt erreicht, da zerrte Olivia an ihm.

»Wir haben keine Zeit. Komm jetzt!«

Kurzerhand kam Carter wieder auf die Beine und ließ sich von ihr die lange Rampe hinaufziehen.

»Das Artefakt!«, stammelte er. »Wir müssen es holen. Wir müssen dieses Portal schließen!«

»Nicht jetzt!«, zischte Olivia. »Jetzt sehen wir zu, dass wir hier verschwinden. Wenn wir tot sind, können wir niemanden um Hilfe bitten.«

Das war ein stichfestes Argument, musste Carter zugeben. Jenseits des Tors rumpelte es. Die Rebellen waren kurz davor, es zu öffnen. Carter besann sich, ignorierte den stechenden Schmerz in seiner Schulter und lief.

Sie beide mussten sich eingestehen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnten, welchen Weg Ashok mit ihnen gegangen war. Es war auch das reinste Labyrinth hier unten, fand Carter. Sie kamen oben an der Rampe an, als sich unten das Tor aufzuschieben begann.

»Scheiße!«, fluchte Olivia.

Die beiden flohen entlang der finsteren Korridore, die schnellen Schritte der Rebellen in ihren Ohren. Carter und Olivia versuchten, auf den Hauptwegen zu bleiben, um ja nicht in eine Sackgasse zu geraten. Carter hielt Ausschau nach einer Karte dieser Sektion, doch irgendwie vermutete er, dass er hier unten nichts finden würde. Nach etlichen Abzweigungen – Carter hörte die Verfolger längst nicht mehr – wurde der Weg schmaler und die Biegungen häufiger, bis er und Olivia sich in einem düsteren und aufgegebenen Lagerraum wiederfanden.

»Sackgasse!«, stellte Carter missmutig fest. »Immerhin scheinen die uns nicht auf den Fersen zu sein.«

In diesem Augenblick hallten schnelle Schritte hinter ihnen, und Olivia blickte ihn vorwurfsvoll an.

»Was?«, fragte er verärgert. »Was kann ich dafür, dass die wissen, wo wir sind?«

»Was schlägst du vor, Carter? Sollen wir uns etwa hier verschanzen?«

»Hm, weiß nicht.«

Carter sah sich um. Ein Teil der Rückwand des geräumigen Kellerraums war eingestürzt, und an der Oberseite des Schutthaufens drang fahles Licht durch ein enges Loch.

»Das könnte klappen«, sagte Carter.

»Was könnte klappen?«, fragte Olivia verdutzt. »Dass wir uns hier festbeißen?«

Er erwiderte nichts, sondern erklomm den schattenumhüllten Schuttberg. Dabei musste er aufpassen, keine Steine loszutreten, welche eine Lawine auslösten. Er hörte, dass Olivia ihm folgte. Dabei Carter hatte gewettet, dass sie ihm einen Vorwurf machen würde, denn er hielt Olivia nicht für jemanden, der sich gern schmutzig machte. Doch offenbar hatte er sich geirrt.

Es klang, als wären die düsteren Rebellenkämpfer kurz davor, den Raum zu stürmen. Carter hörte bereits ihre schnarrenden Kommandos, als er die Spitze des Bergs erreichte. Das Loch in der Wand war kleiner, als er gehofft hatte, doch was sein musste, musste eben sein.

»Los, du zuerst«, forderte er.

Olivia zögerte keine Sekunde und kroch hindurch, dabei schabten ihre Schultern am schroffen Gestein. Auf dem Boden am Eingang des Raums deuteten sich die Umrisse schwacher Schatten an. Sie waren da! Carter wartete nicht, bis Olivia auf der anderen Seite ankam. Hektisch warf er sich auf alle Viere und presste sich durch das Nadelöhr.

»Schneller!«, zischte er.

Olivia war hindurch, rappelte sich auf und packte Carters Hand. Der Soldat verkeilte sich an einer Stelle, kam nicht vor und nicht zurück. Die Rebellen mussten jede Sekunde im Raum sein! Sie zerrte an Carter und bekam ihn schließlich frei. Hinter ihm rieselte der Schutt, als er auf der anderen Seite hinauskam und im Loch die Kegel greller Taschenlampen aufblitzen sah.

»Weg hier!«, flüsterte er.

Der Gang, auf dem sie gelandet waren, führte sie in die Kanalisation, wo sie nach mehreren Hundert Metern eine Wartungsplattform erreichten. Das ausladende Areal war mit einem Gitterzaun gesichert, dahinter lagen mehrere Kontrollpulte, ein kleiner Containerbau, in dem sich vermutlich ein Technikraum verbarg, und ein Wartungszug. Carter kam eine Idee.

»Ich glaube, ich weiß, wie wir unseren Vorsprung ausbauen können«, sagte er.

Er krallte sich in die Maschen des Zauns, zog sich hinüber und marschierte schnurstracks auf das Fahrzeug zu. Überrascht stellte Carter fest, dass es zwei Bahnen waren, die beiden einzelnen Fahrzeuge allerdings so dicht hintereinander parkten, dass man sie für eines halten konnte. Mit einem lauten Scheppern landete Olivia auf dem Gitterboden des Wartungsbereichs.

»Carter, du weißt schon, dass wir hier wie auf dem Präsentierteller sitzen, oder?«

»Willst du zu Fuß weiter?«, fragte der Soldat. »Außerdem bin ich der festen Überzeugung, dass uns das Ding aus diesem verfluchten Labyrinth hinausbringen kann.«

Bei dem Wartungsfahrzeug handelte sich um eine Schwebebahn, welche an der Unterseite eines Schienengerüsts hing. Die Strecke war Carter bereits auf ihrem Weg hierher aufgefallen, und er hatte still darauf gehofft, auf ein Fahrzeug zu stoßen.

Vom Rand der Plattform kletterte er über eine schmale Leiter in den offenen Fahrerstand und warf sich in den abgenutzten Hartschalensitz. Das altertümliche Bedientableau gab ihm Rätsel auf, es schien ihm sogar genauso mysteriös wie die Inschriften auf dem Artefakt des Portals. Olivia kam zu ihm hinauf.

»Rutsch rüber«, sagte sie harsch. »Du bist vielleicht ein guter Kämpfer, aber technisch hast du es nicht so drauf.«

»Wie bitte?«

Sie setzte den Rucksack ab, holte einen Schraubenzieher heraus. Carter sah sie verwundert an.

»Was hast du vor?«

»Du willst dieses Fossil fahren? Fein, dann werde ich mal in seinen Eingeweiden wühlen. Was hattest du vor?«

Er wollte sagen, dass er mithilfe seines Intercoms einen Piratencode an die Systemsteuerung senden wollte, um Zugriff zu erlangen. Er tat es nicht, denn einerseits wurde ihm schlagartig bewusst, dass dieses Fahrzeug über so etwas wie ein Betriebssystem gar nicht verfügte. Zudem traf ein roter Laserstrahl das kleine Technikgebäude direkt neben ihnen.

»Sie sind da!«, rief Carter stattdessen.

Hinter dem Gitterzaun sah er eine Handvoll schwarz gekleideter Kämpfer. Einer von ihnen feuerte auf den Schließriegel des Tors. Olivia hielt unbeeindruckt den Schraubenzieher an die Seite des Steuerpults. Mit dem Kolben ihrer Waffe hämmerte sie gegen die Oberseite des Werkzeugs. Ein gezielter Schlag reichte aus und die Oberseite des Pults klappte einen Spalt weit auf.

»Voilà!«, rief die Diebin. »Gib mir Deckung! Ich erwecke das Ding in der Zwischenzeit zum Leben.«

Carter beugte sich über die Lehne seines Sitzes und feuerte auf die Angreifer. Durch die schwer einsehbare Konstruktion der Plattform mit ihrem Zaun und den Stahlträgern konnte Carter keinen der Gegner direkt ins Visier nehmen. Gleichzeitig war dies Carters und Olivias Vorteil, denn genauso schwer waren sie selbst zu treffen. Die Laserimpulse der Rebellen trafen garstig die Außenhaut des kleinen Fahrzeugs, während Olivia im Pult die Startsicherung zu überbrücken schien. Mit einem Mal leuchteten die Lampen vorn am Fahrzeug auf.

»Küss mir den Arsch, Carter, ich habe es geschafft!«, freute sich Olivia. »Und jetzt festhalten.«

Mit einem kräftigen Ruck schlug Olivia die Klappe zu und schob den Fahrthebel ganz nach vorn. Der Motor der kleinen Schwebebahn heulte heiser auf und Carter verlor sein Gleichgewicht. Er gab einen letzten Schuss auf die Verfolger ab und sah, wie sie in diesem Moment die Gittertür aufbrachen und auf die Wartungsplattform stürmten.

Das kleine Fahrzeug gewann schnell an Fahrt. Carter und Olivia entkamen den Rebellen und somit ihrem sicheren Tod. Kreischend rauschte die Bahn entlang der Schiene über Carters Kopf durch die dunklen Tunnel im Bauch von Tenggara Haven.

»Das war verflucht knapp!«, gestand Olivia.

»Das war es«, musste auch Carter zugeben. »Ich mache solche Sachen ja öfter, aber bisher hatte ich immer ein ganzes Team mit Profis um mich herum.«

Olivia sah ihn merkwürdig an. »Jetzt, wo wir mit heiler Haut davongekommen sind, kann ich es dir ja sagen. Die Bremsen funktionieren nicht.«

»Die Bremsen funktioniert nicht?«, wiederholte Carter erzürnt.

»Na ja, ich musste die Startsicherung mit einer anderen Funktion koppeln, und dieses steinzeitliche Ding kann leider nur beschleunigen und bremsen.«

»Und wenn du es einfach wieder zurücktauschst?«

In diesem Augenblick bog die Bahn um eine Kurve und ein grelles Licht blendete Carter. Zuerst glaubte er an ein entgegenkommendes Fahrzeug, doch dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass es Tageslicht war. Sie waren aus diesem Irrgarten heraus! Doch bevor er sich über diese Tatsache freuen konnte, gelangte er zu einer grausamen Gewissheit.

»Dort vorne hört die Trasse auf!«

»Was du nicht sagst!«, erwiderte Olivia. »Das wird eine ziemlich harte Landung!«

Sie kamen dem Ende der Strecke erschreckend schnell näher. Carter krallte sich in seinen Sitz, während Olivia ihre Tasche packte und wieder auf den Rücken setzte. Das Gleißen vor Carter schwoll zu einem regelrechten Flächenbrand an und mit einem Mal durchbrach das Wartungsfahrzeug den Prellbock. Mit voller Geschwindigkeit jagte es hinaus in den abendlichen Tropenhimmel.

Warmer Wind klatschte Carter ins Gesicht, als die Bahn in die Tiefe sank. Und mit einem Mal platschte es. Zu beiden Seiten türmte sich tosendes Wasser auf und ergoss sich über Carter und Olivia.

»Raus hier!«, war alles, was der Soldat noch sagen konnte. Dann geriet das Wartungsfahrzeug unter Wasser. Es erwies sich von Vorteil, dass sie nicht angeschnallt waren. Carter drückte sich vom Fahrzeug ab und tauchte durch die Myriaden von tobenden Luftbläschen der Oberfläche entgegen. Dabei drang Salzwasser in Nase und Mund. Er schoss aus dem Wasser, rang nach Luft und blickte sich um.

Sie waren im Meer gelandet, irgendwo in einer kleinen abgelegenen Seitenbucht von Tenggara Haven. Vor ihm stieg ein schmaler steiniger Küstenstreifen auf, in dessen felsiger Wand eine große dunkle Öffnung klaffte. Ein Wasserfall stürzte heraus, und Carter sah an der Decke der Betonröhre das Ende der Schienen. Dort, wo sich der Prellbock befunden hatte, hingen nur noch einige klägliche Stahlfetzen.

Ein paar Meter über dem endenden Regenwasserkanal verlief ein Fußweg und darüber breitete sich der tropische Wald von Sumbawa aus. Offenbar waren sie ziemlich weit vor der Stadt gelandet. Vom Fußweg starrten einige Passanten auf Carter herab, und ihren offenen Mündern entwichen plötzlich Ausrufe des Staunens, als neben ihm Olivia auftauchte. Sie hustete und spuckte und hielt sich mit fahrigem Paddeln über Wasser.

»Einen besseren Platz zum Landen hätten wir nicht finden können, was?«, stellte sie fest.

Mythos der Vergangenheit

Der kommende Tag war für Carter eine Qual. Die Strapazen steckten ihm noch in den Knochen, während er die ätzenden Kommentare seiner Teamkollegen ertragen musste. Er würde alles darum geben, möglichst schnell auf eine andere Wache versetzt zu werden.

Mittlerweile hatte er in Erfahrung bringen können, dass die Polizei von Tenggara in kleinen Teams organisiert war und sich ihre Stationen wie ein Netz über die Stadt spannte. Keine der der Hunderten kleinen Polizeiwachen war mehr als 500 Meter von der nächsten entfernt. Wenn er wollte, könnte er einfach bei einer der umliegenden Wachen anklopfen. Dieser Gedanke erschien ihm zunehmend attraktiv, denn Wu, Rick, Joseph und Janaka hatten Carter am Morgen wegen der entwendeten Pistole die Hölle heißgemacht.

Captain Janaka hatte nicht erst auf eine Erklärung gewartet, sondern unmittelbar die regionale Polizeidirektion über den Vorfall in Kenntnis gesetzt. Carter hatte noch versucht, sich zu erklären, wusste aber, dass er mit der ungenehmigten Entnahme der Waffe gegen geltendes Recht verstoßen hatte. Und dass seine Kameraden ihm dies ohne mit der Wimper zu zucken ankreiden würden, sobald sie davon erfahren würden.

Dementsprechend mies war Carters Laune für den Rest des Tages, an dem er lustlos seine Patrouille durch Sinoya Cove machte. Zu allem Überfluss peinigte ihn auch noch der Schmerz an seiner Schulter. Und erst eine Stunde vor Feierabend gab es einen Lichtblick, als er eine Nachricht von Olivia erhielt. Sie wollte Carter treffen. Heute Abend. Der kurze Text sagte, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihnen möglicherweise mehr über dieses Portal sagen konnte.

Die Reflexionen der Neonlichter schillerten an der Unterseite der Wolken am nächtlichen Himmel Tenggara Havens, so als ob sich die Darstellungssucht der Läden, Restaurants und Diskotheken sich über ihre irdischen Grenzen hinwegsetzte. Der Bus, aus dem Carter soeben ausgestiegen war, begab sich mit ohrenbetäubendem Brummen in die Luft und verschwand hinter dem nächsten Gebäude. Ein kurzer Blick auf sein Intercom verriet Olivias Position, und Carter machte sich umgehend auf den Weg.

Durch die schmalen, verlassenen Gassen, in denen er mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen wandelte, wehte ein Hauch von Nostalgie. Dies hier war das alte, ein ursprünglicheres Tenggara Haven. So musste diese Metropole einst ausgesehen haben, bevor der Bauboom und der ganze Kommerz eingesetzt hatten. Doch auch hier war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Die Fronten der meist zwei- oder dreistöckigen Gebäude mit ihren charmanten Holzdächern waren mit modernen Schaufenstern oder grellen Neonreklamen ausgestattet. Über den mit kleinen Dachschindeln gedeckten Walmdächern erhoben sich die fernen strahlenden Wolkenkratzer, um die der nächtliche Flugverkehr schwirrte, wie Fliegen um das Licht.

Carter bog um eine Ecke und stand vor dem Laden, in dem Olivia ihn treffen wollte.

Das Holo-Deck‹, las Carter die grell orangenen Buchstaben über der Glasfront.

Er betrat den Laden, und als er über die Türschwelle kam, begrüßte ihn eine Computerstimme in Landessprache.

»Selamat Datang di toko kami.«

Irritiert blickte sich Carter um, musste aber feststellen, dass es lediglich eine Ansage vom Band war und keiner der Haushaltsroboter rechts an der Wand. Carter wusste langsam, dass die Uhren in diesem Teil der Erde anders liefen, und so verwunderte es ihn auch nicht, dass der kleine Laden zu so einer unmöglichen Uhrzeit noch geöffnet hatte.

Olivia stand jenseits der blitzenden und überraschend durchgestylten gläsernen Verkaufsregale. Das letzte Mal, als Carter sie lässig mit einem Arm auf die Theke gelehnt gesehen hatte, war es im Antiquitätenladen gewesen, und er kam zu der Vermutung, dass Olivia in Ausübung ihrer Arbeit häufiger solche Geschäfte frequentierte.

Ein schüchternes Lächeln huschte über ihren Mund und ihre Augen fuhren zusammen, als sie Carter bemerkte.

»Da hast du uns aber schnell gefunden«, sagte sie. »Die meisten verirren sich in Bangkulua. Sie kommen mit den Straßennamen nicht zurecht.«

»Ich fühle mich auch langsam richtig einheimisch hier«, zwinkerte der Soldat Olivia zu.

»Carter, das ist Budi. Ihm gehört der Laden.«

Der Kerl hinter dem Verkaufstresen war etwa so alt wie Carter und seine Haut sah aus, als hatte er in seiner Jugend unter starker Akne gelitten. Mit unerschütterlicher Herzlichkeit auf seinem Gesicht streckte er Carter die Hand entgegen.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, sagte Carter.

»Budi betreibt den Laden bereits in vierter Generation. Bis vor ein paar Jahren konnte man hier nur Haushaltshelfer und Organisatoren kaufen…«

»Wir helfen auch bei der Inbetriebnahme, Wartung und Reparatur«, erklärte Budi.

»Und als der Hype um die Hologramme durch die Decke ging, war er einer der ersten in Tenggara, der sie angeboten hat. Und heute ist das ›Holo-Deck‹ eine der Top-Adressen für holografische Artikel.«

Carter sagte: »Ich habe da so eine Vermutung, woher dein Holo-Projektor stammt.«

Olivia lächelte verschmitzt, dann wurde sie plötzlich ernst.

»Aber deswegen sind wir nicht hier.«

Budi nickte eindringlich und brachte Carter und Olivia nach hinten, wo er am Ende eines beklemmend schmalen Flurs eine Tür öffnete.

»Ihr müsst laut sprechen«, wies Budi hin. »Mama hört nicht mehr so gut. Wenn ihr was braucht, ich bin vorne an der Kasse.«

Carter und Olivia traten in die kleine Werkstatt, wo an einer Arbeitsfläche, die aussah wie ein Schrottplatz im Miniaturformat, eine alte Frau saß. Sie trug einen verschlissenen und verschmutzten Arbeitskittel, der einmal blau gewesen sein musste, und auf ihrer Nase saß eine elektrische Lupenbrille. Sie schien gerade einen Holo-Projektor zu reparieren, doch sie legte das Gerät sofort aus ihren Händen, als sie die beiden sah. Budis Mutter nahm die Lupenbrille ab und Carter offenbarte sich ein weises, verlebtes Gesicht, welches ihn freundlich aber musternd anblickte.

»Das ist Annisa Dwan, Budis Mutter«, sagte Olivia leise. »Mir ist eingefallen, dass Budi mir mal vor langer Zeit einige Sachen über die Portale erzählt hatte. Er hatte gesagt, dass seine Mutter ihn ständig damit nerve.«

»Seid ihr der Besuch?«, fragte sie mit wackeliger Stimme.

»Wir sind Budis Freunde«, sagte Olivia laut und verständlich.

Im Gesicht von Annisa Dwan erschien ein aufrichtiges Lächeln. Dabei zeigte die betagte Dame ihren zahnlosen Mund.

»Setzt euch«, forderte sie.

Neben Carter war eine Bank, auf der sich die Abdeckplatten irgendwelcher Geräte stapelten. Er ließ sich am Rand nieder, wo er einen freien Streifen fand, während Olivia einen der Werkzeugkoffer zuklappte und darauf Platz nahm.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Olivia an Annisa Dwan gerichtet. »Was weißt du über Planetenportale?«

Budis Mutter lächelte und schüttelte den Kopf. Als nach einer halben Minute noch keine Antwort von ihr kam, fragte Olivia erneut, aber etwas lauter: »Was weißt du über Planetenportale?«

Annisa Dwan stieß einen Laut der Verwunderung aus, so als wäre sie plötzlich aus ihren Gedanken aufgetaucht.

»Planetenportale«, sagte sie. »Ihr wollt etwas über Planetenportale erfahren?«

»Ja, genau. Was weißt du darüber?«

»Hm, sehr lange hat mich niemand mehr danach gefragt. Leute finden Portale seltsam. Sie sagen, sie seien Märchen.«

»Es sind keine Märchen, das weiß ich«, sagte Carter. »Wir wollen wissen, warum niemand etwas über diese Portale weiß?«

Die alte Frau sah ihn überraschend scharfsinnig an. Hinter ihren eingefallenen Augen funkelte das Wissen vieler Jahrzehnte, und Carter konnte sich vorstellen, dass Annisa Dwan nach all dieser Zeit trotz ihres hohen Alters geistig noch immer bei vollem Bewusstsein war.

»Planetenportale gab es schon immer«, sagte sie. »Nur hat man sie erst vor knapp 120 Jahren entdeckt und ihre Funktionsweise nach und nach entschlüsselt. Wer sie erschaffen hat, bleibt wohl für immer ein Rätsel. Die Allianz wusste um die Macht der Portale und betrieb ihre Erforschung deshalb im Geheimen.«

Carter stutzte: »Das heißt, die Allianz hat diese Portale untersucht und der Öffentlichkeit nichts davon erzählt?«

»Ganz richtig. Was weißt du über die Portale?«

Carters nasse Hände rangen miteinander, als er die prüfenden Blicke der alten Frau auf sich spürte.

Er sagte: »Die Portale sollen für interstellare Reisen genutzt worden sein.«

»Goldrichtig!«, sagte Annisa Dwan unumwunden. »Die Allianz fand heraus, dass die Portale eine Verbindung zu fernen Exoplaneten darstellen. Insgesamt zwölf Planeten gibt es. Interessant an der Geschichte ist, dass all diese Planeten für den Menschen bewohnbar sind.«

Carter konnte kaum glauben, was er da hörte. Ihm kam es vor, als sei er bei einer Märchenstunde. Er suchte Olivias Blick, doch die Diebin hörte Budis Mutter ebenfalls gebannt zu.

»Als die Allianz die Sprungtechnik beherrschte, begann sie mit der systematischen Erkundung und Besiedlung der Exoplaneten. Es war eine faszinierende Zeit voller Fortschritt und Wohlstand. Die Menschen glaubten an eine Zukunft auf fernen Planeten, daran, ihre irdische Saat hinaus ins Universum zu tragen und dort Wurzeln schlagen zu lassen. Es gab nicht nur bodenbasierte Portale, sondern auch sogenannte Himmelsportale, die in ihrer Größe variieren konnten, da ihr Kraftfeld von mobilen Energieumwandlern stammte.«

»Wie konnte die Allianz all das vor der Öffentlichkeit geheim halten, wenn so viele Menschen involviert waren?«, fragte Olivia.

Annisa Dwan reagierte nicht, sondern starrte, versunken in ihre Erinnerungen, durch die Wand hinter Carter hindurch.

»Was geschah dann?«, fragte Carter laut.

Wieder entwich der alten Frau ein Laut der Verwunderung und sie sagte: »30 Jahre lang hat die Erforschung und Besiedlung gut funktioniert, doch dann mit einem Mal, es ist jetzt ungefähr 50 Jahre her, hat man damit aufgehört. Die offizielle Begründung der Allianz war eine zu große logistische Herausforderung.«

»Aber es gibt einen anderen Grund dafür, oder?«, fragte Olivia.

Annisa Dwan nickte ihr so finster zu, dass Carter trotz der tropischen Hitze eine Gänsehaut auf dem Rücken bekam.

»Die Legende sagt, dass man eines Tages auf einem der Planeten auf eine außerirdische Intelligenz stieß.«

»Auf welchem Planeten?«, wollte Carter wissen.

»Das ist unerheblich«, erwiderte die alte Frau mit harschem Unterton. »Die Außerirdischen entpuppten sich als feindlich. Alle Kolonien wurden angegriffen. Aus Angst, dass diese Lebensform zur Erde gelangt, hat man die Portale in größter Eile geschlossen und zerstört. Viele der Kolonisten hatten keine Gelegenheit zurückzukehren. Die Menschheit hat sich von da an auf die Besiedlung des Sonnensystems konzentriert. Doch es kursieren Gerüchte, dass nicht alle Portale auf der Erde zerstört worden sind. Die Allianz soll angeblich welche versteckt halten, man munkelt, sie entwickelt damit heimlich ein strategisches Waffensystem.«

Einen Augenblick lang war die kleine Werkstatt von einer geisterhaften Stille erfüllt. In Carter machte sich eine bleierne Schwere breit, so als ob das, was er gerade gehört hatte, sich wie ein Betonklotz auf seinen Bauch legte. An vielem von Annisa Dwans Aussagen stieß er sich. Er konnte sich nicht erklären, warum er nie von alldem gehört hatte und warum diese geschichtliche Episode gar wie vollständig aus dem kollektiven Bewusstsein ausradiert zu sein schien.

»Danke«, sagte Olivia schließlich.

Annisa Dwan sah sie aufrichtig an.

»Warum fragt ihr nach den Portalen?«, wollte sie wissen.

»Weil wir eines in Tenggara entdeckt haben«, erklärte Olivia. »Die Rebellen haben es ans Laufen gebracht.«

Die Augen von Budis Mutter weiteten sich plötzlich und sie hob warnend ihre steifen Hände.

»Wer die Portaltechnologie beherrscht, hat sehr viel Macht«, mahnte sie. »Niemand sollte sie leichtfertig nutzen. Denn niemand weiß, was sich auf der anderen Seite verbirgt.«

Olivia fragte: »Was wäre, wenn die Rebellen diese Technologie beherrschen, und sie gegen die Allianz einsetzen würde?«

»Großes Unheil würden sie bringen. Nicht nur über Tenggara Haven, sondern über die gesamte Erde und sogar darüber hinaus!«

Die ausgetrockneten Lippen der alten Frau zitterten vor Aufregung, und sie hielt weiterhin ihre Hände in der Luft, während sie Carter und Olivia abwechselnd ansah.

»Was ist das für eine außerirdische Intelligenz, auf die die Menschen gestoßen sind?«, wollte der Soldat wissen.

Annisa Dwan ließ entkräftet die Hände in ihren Schoß sinken. Mit geschlossenen Augen schüttelte sie den Kopf und murmelte etwas auf Indonesisch.

»Was sagt sie?«, flüsterte Carter.

»Ich weiß nicht«, gestand Olivia. »Ich verstehe nicht alles, aber es hört sich an, als würde sie beten. Wenn das alles wahr ist, dann ist das eine Sache, die zu groß für uns beide ist.«

»Die Erkenntnis hatte ich auch gerade. Wir müssen die Allianz warnen.«

Ein verbittertes Lächeln trat auf Olivias Gesicht und sie strich sich den Pony aus den Augen.

»Glaubst du echt, die schenken uns Beachtung?«

»Ich war Captain bei den Streitkräften.«

»Und jetzt bist du Bodensatz. Nichts für ungut, Carter, aber ich schätze, die würden eher deinem Boss Glauben schenken als dir.«

»Was ist dein Plan?«

Olivia musterte sein Gesicht, dann blickte sie zu Annisa Dwan, die noch immer in ihr Gemurmel vertieft war. Die Diebin erhob sich.

Mit kräftiger Stimme sprach sie: »Danke für die Auskunft, Annisa. Einen schönen Abend noch.«

Annisa Dwan blickte kurz auf, nickte und widmete sich wieder dem Gegenstand auf ihrer Werkbank. Olivia gab Carter ein Zeichen, dass es an der Zeit war, zu gehen. Draußen auf dem Flur hielt sie ihn jedoch sofort wieder an.

»Hör zu, ich weiß nicht, was hier los ist, und was diese Rebellen da unten in den Tunneln planen. Aber nach allem, was Budis Mutter gesagt hat, müssen wir sie aufhalten.«

Der Korridor war so eng, dass Carter nur zwei Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war. Diese Nähe war ihm unangenehm, auch wenn er zunehmend gern in Olivias Gegenwart war. Betreten sah er hinab, wo ihre Füße genauso dicht beieinander standen.

»Sehe ich auch so«, sagte er. »Und ich könnte mir in den Hintern beißen, dass ich diesen verfluchten Schlüssel nicht schon in New Caledon in meine Finger bekommen habe.«

»Du kannst nichts dafür.«

Carter sah auf und entdeckte in Olivias ebenmäßigem Gesicht so etwas wie Verständnis, ein überraschend emotionaler Ausdruck, wie Carter fand.

Olivia fügte hinzu: »Die Aktion der Rebellen scheint von langer Hand geplant gewesen zu sein. Ich habe keine Ahnung, was sie mit der Öffnung des Portals bezwecken wollen, vor allem, wenn die Gefahr besteht, einer außerirdischen Lebensform den Weg zur Erde zu ebnen.«

»Was, wenn die, die uns gestern verfolgt haben, welche von ihnen waren?«, fragte Carter.

»Aliens? Meinst du wirklich? Für mich sahen die wie Menschen aus. Es kann genauso gut sein, dass sie ehemalige Kolonisten befreit haben.«

Carter machte sich los und ging zurück in den Laden. Dabei sagte er: »Das alles gefällt mir nicht. Da ist zu viel im Argen. Zu viel begraben unter dem Schleier der Geheimhaltung und der Vergangenheit.«

Budi stand hinter seinem Rechner und hatte eine Tabellenkalkulation geöffnet. Als Carter und Olivia den Verkaufsraum betraten, blickte er müde zu ihnen auf.

»Ich hoffe, ihr habt meiner armen Mutter keinen Herzinfarkt beschert!«

Olivia überging seinen Kommentar und gab Carter eine Antwort. »Immerhin wissen wir jetzt, dass diese Portalgeschichte kein Mythos ist, sondern Realität.«

»Portale?« Budis Augen wurden so groß wie die seiner Mutter. »Ihr glaubt doch nicht wirklich an diesen Schwachsinn, oder?«

Carter und Olivia blieben stehen, drehten sich unisono um und sagten wie aus einem Mund: »Doch, tun wir.«

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