Eine Viertelstunde später schoben wir das lächerlich kleine Schlauchboot in die kalten Wogen des Ärmelkanals. Dafür, dass es nur der Kanal war, brauste das Meer ordentlich auf. Clive sagte, er wollte nicht weit hinaus, sondern lediglich den Zaun umschiffen, der bis an die Wasserkante reichte. Auf dem Weg zum Strand hatte er uns die Überwachungskameras gezeigt, die den Streifen zwischen den beiden Zäunen überwachten. Für Clive ein handfestes Indiz dafür, dass die Anlage mehr beherbergt als einen einfachen Truppenübungsplatz. Er sagte auch, dass Tyneham vom Meer aus nicht zu sehen war. Ein stattlicher Hügel, der steil zum Wasser abfiel, bot dem kleinen Örtchen Schutz vor den Launen des Meeres. Clives Plan war es, an Worbarrow Beach anzulanden, einem Strand, von dem aus man im Tal zwischen den beiden Höhenzügen nach Tyneham wandern konnte.

Dem armen Ernest stand die Übelkeit ins Gesicht geschrieben. Noch weitere zwanzig Minuten in dieser Nussschale aus Gummi und er würde sein ganzes Bier auskotzen. Clive gab sich größte Mühe, um nicht weiter hinaus gezogen zu werden, aber der Wind und der alles durchnässende Regen kämpften mit zäher Kraft gegen seinen Plan an.

Ich muss gestehen, dass sich bereits hier eine unbestimmte Angst in mir breit machte. Und es war nicht nur wegen des Alkohols. Zwar vertraute ich Clive, denn in all den Jahren waren wir drei zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, doch mein Gefühl, dass mit diesem sonst so lebendigen Mann etwas nicht stimmte, schien sich zu bewahrheiten. Und dass er diesen merkwürdigen Ort für unsere diesjährige Reise ausgewählt hatte, trug nicht zu einer Schwächung meines Verdachts bei. Auch wenn wir uns viel seltener trafen, als damals während unserer Zeit an der Universität, waren wir durch unsere Ausflüge eng miteinander verbunden.

Clive steuerte das Boot mit seinen jämmerlichen Paddeln Richtung Strand. Im grauen Schleier zeichnete sich der weiße Küstenstreifen ab, einrahmt von erhabenen Hügeln. Die Wellen schaukelten jetzt mehr auf. Ich leerte meine Dose und schmiss sie in den Wind. Der Kiesstrand war nun zum Greifen nah und das Schlauchboot wippte rhythmisch vor und zurück. Die Wogen trugen uns auf die rundgewaschenen Steine. Clive sprang auf, watete ohne ein Murren durch die Brandung und zog uns an Land.

Unbeholfen erhob ich mich und stolperte aus dem Boot auf den Strand. Ich ließ Ernest zurück, denn da gab es etwas wichtigeres, dass ich prüfen musste.

Die Landschaft vor mir sah nicht wie ein militärisches Übungsgelände aus, sondern wie ein Naturschutzgebiet auf den Hebriden. Karg und naturbelassen. Es gab keinerlei Anzeichen für militärische Aktivitäten, keine Hinterlassenschaften wie Stacheldraht, Kanister, Warnschilder und dergleichen. Und niemanden, der uns in Empfang nahm. In diesem Moment wusste ich es.

»Hier ist niemand.«

Die Sturmböen zupften an meiner Jacke, als ich mich zum Boot umdrehte und meine beiden Freunde ansah. Clive hatte Recht gehabt. Wir waren zwar Einbrecher, aber keine Landesverräter. Zumindest solange wir nicht erwischt wurden.

»Wisst ihr noch, als wir in die Klinik in Peterborough eingestiegen sind«, lachte Ernest. »Da wären wir fast vom Wachmann erwischt worden. Junge, hatte ich Bammel! Wo geht’s zum Hotel? Ich frier mir langsam den Arsch ab.«

Wir versteckten das Boot in der Böschung, ließen die Luft raus, machten es sicherheitshalber fest und betraten den Pfad, der zum Dorf führte. Tyneham lag rund eine Meile landeinwärts und der Wind im Rücken trug uns hin.

Nach einer Weile erreichten wir einen schützenden Hain, in dem wir uns kurz unterstellten. Ernest zündete sich eine Zigarette an und Clive spendierte uns neues Bier aus der Palette, die er auf seiner Schulter trug und die nun auf dem nassen Boden stand.

»Was für Geister sind das?«, wollte ich wissen.

»Geister?«, fragte Clive. »Du hattest doch interdimensionale Wesen erwähnt. Ich finde, das beschreibt es schon ganz gut. Der Typ, der das Buch geschrieben hat, Geoffrey Daling, war der Erich von Däniken des neunzehnten Jahrhunderts. Aber bei ihm ging es nicht um Aliens, sondern er war der festen Überzeugung, dass die Erde, wie wir sie kennen, nur eine von vielen ist. Und dass es noch andere intelligente und zivilisierte Lebensformen geben musste, eben nur in verschiedenen Dimensionen. Er nannte es Welten. Seine Theorien stützte er vor allem auf Beschwörungsrituale aus dem siebzehnten Jahrhundert, bei denen Kirchenbedienstete im Geheimen direkten Kontakt mit Gott herzustellen versuchten.«

»Dieser Daling hat wohl zu viel Schauergeschichten gelesen«, scherzte Ernest.

»Er schreibt, dass es funktioniert hat«, sagte ich. »Zumindest bei diesen Hardcorechristen. Und dass sie nicht den Himmel fanden, sondern die Hölle und einen hundsmiserablen Tod gestorben sind. So, wie ich das aber herausgelesen habe, hatte Daling es nicht selbst probiert.«

Clive kam ganz nah an mich heran. Er schlang seinen Arm um meine Hüfte und zog mich zu sich.

»Und nun wollen wir herausfinden, ob er Recht hat«, flüsterte er.

Mit seiner Hand strich er über meinen Hintern, dann ließ er mich los. Ich nutzte die Gelegenheit, fuhr mit der halbwegs angewärmten Hand aus meiner Jackentasche in die rechte Tasche seines Parkers und schnappte mir die Kette.

»Was soll das werden!«, beschwerte sich Clive.

»Ich will unseren Schlüssel sehen«, lachte ich.

Behutsam öffnete ich meine Hand. Der Anhänger war ein mit Gold beschlagenes Medaillon in der Größe eines Hühnereis. Ich wandte mich vom Wind ab, damit das Innere trocken blieb. Als ich es aufschlug, stockte mir der Atem.

Ich war mir nicht sicher, was ich hier eigentlich sah. Am ehesten ließ es sich als eine Art Diorama beschreiben, in dessen Zentrum ein konservierter Embryo lag. Drum herum befanden sich winzige Röhrchen, die mich an versteinerte Korallen erinnern ließen.

»Ist das echt?«, fragte ich.

»Siebzehntes Jahrhundert«, antwortete Clive. »In den Niederlanden war es zu jener Zeit unter wissenschaftlichen Gelehrten des medizinischen Fachs üblich, solche Szenen aus Respekt vor der Sterblichkeit des Menschen zu entwerfen. Diese hier ist recht klein, aber auch recht charmant, findest du nicht? Das hinter dem Embryo ist Mutterkuchengewebe. Und wenn du genau hinsiehst, wirst du feststellen, dass dies kein Menschenembryo ist.«

»Ach du Scheiße«, fluchte ich.

Ernest drängelte sich neben mich und gaffte ebenfalls in das goldene Ei. Dieses kleine Wesen sah auf den ersten Blick aus wie ein menschlicher Embryo. Es hatte einen großen Kopf und einen kleinen Körper. Und obwohl ich wusste, dass einige Embryonen aus dem Tierreich dem menschlichen ähnlich sahen, war dieses Ding doch etwas gänzlich anderes. Aus dem Bauch ragten feine Glieder, die wie die Füße von Insekten oder Spinnen erschienen. Der Unterleib war auffällig dick und rund, doch der Kopf war am merkwürdigsten. Unter den überproportional großen Augen klaffte ein senkrechter Spalt, der sich bis unter den Brustkorb zog.

»Was zur Hölle ist das?«, wollte Ernest wissen.

»Interdimensionale Wesen«, erklärte Clive trocken. »In der Kirche von Tyneham gibt es ein verborgenes Taufbecken. Unter anderem dort sollen die von Daling beschriebenen Rituale durchgeführt worden sein.«

»Deshalb Tyneham«, flüsterte ich.

Clive riss mir die Kette aus der Hand und steckte sie in seine Tasche zurück. Der Blick, mit dem er mich ansah, erschauderte mich. Ja, ich fand, dass Clive sich im letzten Jahr verändert hatte. Wir hatten nur zweimal telefoniert. Jetzt sah ich ihn das erste Mal seit unserer letzten Reise. Die Nähe und die Vertrautheit, die ich damals spürte, waren nicht mehr da. Sie waren etwas anderem gewichen. Einer Stimmung oder einem Gefühl, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht auszudrücken oder gar zu beschreiben vermochte. Dennoch fühlte ich mich zu diesem Mann hingezogen. Clive wandte sich ab, hob die aufgeweichte Palette auf und marschierte weiter. Ernest spuckte seinen Zigarettenstummel aus und zwinkerte mir im Vorbeigehen bedeutungsschwanger zu.

Wir näherten uns dem Ziel unserer diesjährigen Reise. Ich freute mich, bald ein Dach über dem Kopf zu haben. Dieser anhaltende Regen hatte mich vollkommen durchnässt. Ich fühlte, wie der Pullover unter meiner Regenjacke nass an meinem Körper klebte, wie die vollgesogene Jeans meine Beine einquetschte. Doch eine Frage trieb mich um, je näher wir der kleinen Siedlung von Tyneham kamen, die sich noch hinter einem seichten Hügeln und dem kleinen Wäldchen verborgen hielt.

»Warum genau hat die Armee dieses Gelände damals aufgegeben?«

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