»Wo ist Twiki eigentlich?«, fragte Ernest.

Die Pappe der Bierpalette war mittlerweile so weich, dass Clive sie vor dem Bauch trug. Vor uns lag das leerstehende Pensionat, das heute Nacht unsere Schlafstätte sein würde. Immerhin waren die meisten Scheiben des zweigeschossigen Gebäudes heil geblieben. Zumindest von den Gebäudeteilen, die ich von der kleinen Straße aus sah. Die Zeiger meiner Armbanduhr verrieten, dass die Sonne langsam unterging. Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich nur ein paar Meilen über uns, über dieser trostlos frostigen Decke aus Regen und Wind, gerade ein sagenhafter Sonnenuntergang anbahnte und den Glauben an die Schönheit dieser Welt am Leben hielt. Niemand von uns erwartete, dass wir diese eiskalte Nacht in unsere Schlafsäcke gekuschelt auf dem harten Boden verbringen würden. Wir würden trinken, reden, küssen und uns am Schein eines Lagerfeuers erfreuen.

»Twiki ist gut verstaut«, antwortete Clive.

»Lose?«, fragte Ernest.

»Originalverpackt.«

»Werd ich nie verstehen, warum Leute die Figuren nicht auspacken«, sagte ich.

»Du bist eben keine Sammlerin, Doris«, lachte Ernest. »Ich schlage vor, wir suchen uns ein gemütliches Zimmer und hauen uns noch ein paar Drinks hinter die Binde. Ich bin mir sicher, dass sich mit ordentlich Ethanol im Blut viel besser eine Verbindung zu einer anderen Dimension aufbauen lässt.«

»Die Kirche ist direkt hinter der Kurve«, rief Clive.

»Prima«, sagte ich. »Dann können wir also auch hinkriechen, wenn wir nicht mehr laufen können.«

Im letzten Jahr hätte Clive noch darüber gelacht. Jetzt ging er ohne sich eine emotionale Regung anmerken zu lassen auf den Eingang zu. Tyneham war eher eine Siedlung als ein Dorf. Die kläglichen Überbleibsel von ein paar Häusern und Höfen sammelten sich an der einzigen Kreuzung. Das Gebäude des Pensionats war aus den späten Fünfzigern und wirkte dagegen unverhältnismäßig groß. Erschöpft schritt ich hinter Clive die paar Stufen hinauf zum Eingang. Hinter den bodenlangen Fenstern des Eingangsbereichs war es dunkel. Unser Reiseleiter zog an der doppelflügeligen Tür und zu meiner Überraschung war sie nicht verschlossen. Dann verschwand er in der Finsternis.

Ich folgte und als ich ins Trockene trat, holte ich meine kleine Taschenlampe aus dem Rucksack. Clive und Ernest taten es mir gleich. Die warmgelben Lichtkegel huschten durch die ausgestorbene Eingangshalle. Der mit kleinen Fliesen ausgestattete Boden war dreckig aber vollkommen unbeschadet. So als ob hier nie eine Truppenübung stattgefunden hatte. Es war beängstigend, denn genau so stellte ich mir die Welt nach dem Atomkrieg vor. Es war, als wäre ich längst in dieser Postapokalypse angekommen. Diese surreale, feindliche Welt, in der es kein Leben, keinen Strom und keine Margaret Thatcher mehr gab.

Wir hielten auf die großzügige, geschwungene Treppe zu. Im stillen Konsens darüber, dass wir unser Nachtlager sicherheitshalber oben aufschlagen würden, schritten wir hinauf. Der Regen, der draußen rauschte, hörte sich hier drin dumpf und fern an.

Oben angekommen hielten wir uns rechts und betraten den langen Flur. Die Zimmer zu beiden Seiten hatten längst keine Türen mehr. Ich wählte einen Raum auf der linken Seite. Auf dem Linoleumfußboden waren noch die Umrisse der Möbel zu erkennen.

»Windgeschützt und trocken«, sagte Clive.

Ich durchschritt das Zimmer und blickte hinunter zur Straße. Im Sommer war es hier sicher wunderschön. Ahorn und Eiche wuchsen stattlich am Straßenrand und spendeten an heißen Tagen den nötigen Schatten. Jetzt hatten die Baumriesen alle ihre Blätter abgeworfen und ihre kahlen Äste streckten sich wie überdimensionale Skelettfinger in den grauen Himmel.

»Wem kann ich diesen herrlichen Tag mit einem Schlückchen Gin versüßen?«, fragte Clive auf einmal.

Es klang befremdlich. Irgendwie aufgesetzt. Als ich mich umdrehte, hatte er aus seinem Rucksack bereits eine Flasche Gilbey’s Gin ausgepackt und war bereits im Begriff sie zu öffnen. Ernest hatte seinen Schlafsack ausgerollt, ging rüber zu Clive und riss ihm die Flasche aus der Hand.

»Ein Glück, ich wäre fast verdurstet!«

Ernest nahm zwei tiefe Schluck und drückte mir die Flasche an die Brust. Draußen wurde es langsam dunkel und der Schein unserer Taschenlampen tauchte den leeren Raum in ein warmes Licht.

Unsere sogenannten Forschungsreisen veranstalteten wir, warum auch immer, ausschließlich im Herbst. Es hatte immer etwas von Campingurlaub, wenn wir in Geisterhäusern, auf Friedhöfen und in verfluchten Industrieanlagen übernachteten. Niemand von uns glaubte natürlich daran, dass wir heute Nacht Kontakt mit dem Jenseits aufnehmen würden. Wir alle drei waren studierte Naturwissenschaftler, die diesen paranormalen Fimmel als großen Partyspaß genossen. Nach all den Jahren kamen mir hin und wieder Zweifel, ob die Dinge, die wir taten so gut für uns waren. Wir pflegten dieses Ritual seit unserer Zeit an der Universität. Die Wochenenden zu dritt waren immer extrem intensiv und wirkten bei mir noch viele Monate nach. Ich für mich merkte, dass ich mich zu großen Teilen über unser jährliches Besäufnis definierte.

Clive nahm die Flasche von seinem Mund und trat an mich heran. Etwas rührselig, wie ich fand, streichelte er mein Gesicht. Er gab sich Mühe, nüchtern auszusehen, aber damit war er schon im letzten Jahr kläglich gescheitert. Ich hörte, wie Ernest sich schlurfend entfernte. Sein Anstand war bewundernswert.

Clive schloss die Augen und neigte seinen Kopf leicht zur Seite. Seine atemberaubenden Gesichtszüge, die aussahen, als hätte man sie aus Stein gehauen, machten mich wahnsinnig. Er hatte mich und das wusste er. Aber genauso hatte ich ihn. Wir küssten uns. Es war, als wäre unser letzter Kuss erst gestern gewesen und nicht letzten November. Seine andere Hand fuhr unter meinen Pullover und berührte meine Hüfte. Ich dachte an die Fettpolster, die im letzten Jahr noch nicht in diesem Maße dort waren.

»Wir sollten einfach mal ein echtes Hotel buchen«, flüsterte ich. »Immer diese kalten, verregneten Orte. Wie sollst du da an mich rankommen.«

»Die Gänsehaut würdest auch in einem vernünftigen Hotelzimmer kriegen«, antwortete er.

Ich biss ihm vorsichtig auf die Unterlippe.

Christie, Clives Frau kannte mich. Nach seinem Biologiestudium hatten sie sich kennengelernt. Sie war ein wahnsinnig cleveres Mädchen. Vor einigen Jahre waren sie aus dem East End runter nach Ipswich gezogen, um ein ruhiges Leben in einem gepflegten Reihenhaus zu führen. Christie wusste selbstverständlich nicht von Clive und mir. Seine Ehe und seine Kinder Martin und Jane, die gerade erst in die Schule gekommen waren, liebte er über alles, und auf keinen Fall wollte Clive sein Leben wegen einer Sauftouraffäre – etwas anderes war es ja letztendlich nicht – aufs Spiel setzen. Er sah mich an. Seine Augen waren immer noch seltsam matt, als läge eine unergründliche Schwere auf ihnen.

»Jetzt sag schon. Was ist im letzten Jahr passiert, dass du so mies drauf bist?«

»Merkst du das etwa?«, fragte Clive erschrocken.

»Ich bin vielleicht besoffen, aber nicht debil. Hast du deinen Job verloren?«

»Auch«, begann Clive. »Ich … es ist so schwierig über all das zu sprechen.«

Ich hörte, wie Ernest den Flur rauf und runter ging und dabei Selbstgespräche führte.

»Du kannst mit uns darüber sprechen, wirklich«, lallte ich.

Clive schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«

Er ließ mich los und nahm noch einen Schluck. Anschließend bot er mir die Flasche an und obwohl sich bei mir schon alles drehte, trank auch ich daraus.

»Ernest verdammt!«, schrie Clive so unerwartet, dass ich dass Gefühl hatte, plötzlich nüchtern zu werden. »Komm her, bevor wir den Gin ohne dich austrinken.«

Nach ein paar Augenblicken stand unser Freund wieder im Zimmer und sah uns mit seiner höflichen Zurückhaltung an. Ein bisschen befremdlich fand ich es schon, dass er Clives und mein alljährliches Techtelmechtel ohne Murren ertrug. Vor drei Jahren hatte sich Clive sogar dazu hinreißen lassen, ihm einen hingebungsvollen Zungenkuss zu geben. Als kleinen Trost, weil Ernest in dieser Nacht niemanden abbekommen hatte. Das war, als wir in dieser milden Herbstnacht auf dem Tierfriedhof waren und außer uns noch drei weitere Pärchen ihre Nummer schoben.

»Wann gedenkst du, das Jenseits anzurufen?«, fragte Ernest.

»Ich schätze«, antwortete Clive, »dass wir es ruhig einmal probieren könnten.«

Die Zeiger auf meiner Uhr verrieten, dass es bereits halb sieben war. Clive kontrollierte noch einmal, ob er die Kette bei sich trug. Dann nahm er Dalings Buch aus seinem Rucksack und als sich jeder mit Bier ausgestattet hatte, verließen wir das Zimmer.

Der Flur war in blanke Finsternis gehüllt und nur unsere Lampen konnten ihm etwas Helligkeit abtrotzen. In solch einer Dunkelheit fühlte ich mich immer, als würde meine ganze Wahrnehmung nur bis zu meiner Haut reichen. Alles darüber hinaus war wie das Weltall. Dunkel und unbekannt. In der Schwärze der Nacht konnte alles sein. Oder nichts. Bedächtig stiegen wir die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Auf halbem Weg blieb Clive stehen. Ernest und ich taten es ihm gleich. Ich lauschte in die Finsternis, ob sich darin etwas bewegte. Doch da war nichts. Nach ein paar Augenblicken erklang Clives Stimme, die mit einem Mal ganz brüchig klang.

»Christie hat sich von mir getrennt.«

* * *

Das also war das postapokalyptische England. Dieser durch den atomaren Overkill herbeigeführte Zukunftsalbtraum erstreckte sich zu beiden Seiten der kleinen Dorfstraße. Das Pensionat war zweifelsohne das mit Abstand am besten erhaltene Gebäude hier. Von den meisten der alten Natursteinhäuser waren nur noch die Grundmauern übrig. Es war nicht schwer, sich die verkohlten Autowracks und die versengten Reste von Männern, Frauen und Kindern dazwischen vorzustellen. Und all ihre verbrannten Habseligkeiten, Dinge über die sie ihr Leben definierten. Ein Leben in unreflektiertem Materialismus. Ein Leben, das mit einem Schlag geendet hatte. Und es war scheißegal, auf welcher Seite des eisernen Vorhangs der rote Knopf zuerst gedrückt wurde. Die Raketen hatten alles ausgelöscht. Anfangs nur den Feind. Dann auch seine Verbündeten. Und am Ende traf das eigene Land. Aber so sehr das verregnete Tyneham im Schein der Taschenlampen nach der von Reagan oder den Russen herbeigeführten Apokalypse aussah, so erstaunt war ich, als ich die Kirche sah.

Mir war eigentlich klar, dass selbst auf einem Truppenübungsplatz ein Gotteshaus unangetastet blieb, dennoch war ich überrascht, wie unversehrt der Bau in der Dunkelheit wirkte. Die St. Marys Kirche war ein recht kleiner Bruchsteinbau aus dem neunzehnten Jahrhundert, wie man ihn überall auf dem Land fand und besaß keinen Turm.

Ich war gespannt, wann Clive uns mehr von sich erzählen würde. Ich konnte verstehen, dass er sich jetzt ablenken wollte, aber ich verstand nicht, dass er in den letzten Monaten nichts erzählt hatte. Ich war schließlich der Ansicht, dass ich eine Freundin für ihn war. Vielleicht war dieses Gefühl nur einseitig. Jedenfalls hatte meine Vorstellung von der Stabilität unserer Dreiergruppe einen Riss bekommen.

Clive öffnete uns den rechten Flügel der Tür. An der anderen Seite hing ein verwittertes Schild mit der Aufschrift: »Schützt unsere Kirche«. Eine gespenstische Stille empfing uns, als wir das Kirchenschiff betraten.

»Warum übernachten wir nicht hier?«, fragte Ernest. »Ich hab’ noch nie auf einer Kirchenbank geschlafen.«

Aber Clive schien nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein. Zielsicher marschierte er in die Mitte des Gebäudes und blieb stehen. Als wir zu ihm aufgeschlossen hatten, konnte ich zu beiden Seiten hinter den Spitzbögen das Querschiff erahnen. Ein Zischen zerriss die Stille. Erschrocken drehte ich mich um uns sah, dass Ernest sich ein weiteres Bier aufgemacht hatte.

»Himmel«, sagte ich. »Musst du mich so erschrecken?«

»Here comes Johnny!«, lallte Ernest.

»Los verdammt, gib mir eins ab!«

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