Lieber Science-Fiction-Fan,
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1. Evening Star
Das Erste, das ich nach meiner Wiedergeburt mitbekam, war das unkontrollierte Zittern meines Körpers. Mehr aus einem Reflex heraus als aus bewusster Steuerung öffnete ich meine verklebten Lider und erblickte die Überbleibsel des Kälteschlafs. Ich war umgeben von gewölbtem Glas, auf dem abertausende smaragdener Eiskristalle schimmerten. Wie ein Schleier auf dem Haupt einer Braut saß der Frost auf der Begrenzung meiner Kryokammer und verbarg, was jenseits davon auf mich wartete.
»Guten Morgen, Carl Harding«, hörte ich eine feminine Stimme.
Nur langsam begriff ich diese Worte, die durch die tanzenden Schwaden eisiger Luft zu mir drangen. Ich schmeckte, dass sich in meinem Atem noch eine beachtliche Konzentration des süßlichen Zusatzstoffs befand, den man dem Xenongas beimengte. In den letzten Monaten hatte mich dieses Gas in Kryostase schlafen lassen, doch nun war es nicht mehr als ein widerwärtig chemischer Geschmack auf meiner Zunge. Ich fühlte mich von Sekunde zu Sekunde übler und noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, der mir gestattete zu verstehen, woher diese engelsgleiche Stimme gekommen war, wurde das Innere meines Kopfs von einem Gewittersturm erfasst und ich begann zu würgen.
»Wenn Sie mich verstehen, sagen Sie jetzt bitte ›Ja‹«, forderte mich die Stimme auf.
Am liebsten hätte ich gekotzt, doch da war nichts, das mein Magen hätte hergeben können.
»Ja«, keuchte ich und erschrak.
Nicht nur darüber, dass meine Stimme klang, als wäre ich ein dahinsiechender Greis, sondern vor allem darüber, dass meine Bronchien so zusammengequetscht waren, als wären sie eine vertrocknete Frucht, aus der man Saft gewinnen wollte.
Jeder Atemzug in dieser verfluchten Eiseskälte stach in meine oberen Atemwege wie eine Horde mikroskopischer Nadeln. Jeder, der schon einmal der unvorstellbaren Kälte der Antarktis ausgesetzt war, kennt wohl dieses Gefühl. Es ist, als erfriere der Körper von innen heraus.
Aber nur die wenigsten kennen die Steigerung dieses Schmerzes, auch wenn ich niemandem eine Lungenkrankheit wie Asthma an den Hals wünsche, nur um mein Leid nachvollziehen zu können. In dem Augenblick des Auftauens vermochten meine verengten Bronchien nicht mehr, als einen kläglichen Schwall lauwarmen Atems in die Bedrücktheit meiner Schlafkammer zu entlassen. Jeder Atemzug glich einem kleinen Tod. Reisen durch das All würden wohl nie zu meinen Lieblingstätigkeiten zählen.
»Bitte bewegen Sie jetzt Ihre Finger und Zehen, Carl Harding«, forderte mich die weibliche Stimme auf. »Bestätigen sie mit ›Ja‹.«
Ich tat, was der Computer befahl, denn ich wusste, dass ein Befolgen seiner Anweisungen der schnellste Weg aus dieser Eishölle war. Ich neigte meinen Kopf zur Seite, doch die Polsterung der Nackenstütze verhinderte, dass ich meine Hände geschweige denn meine Füße sehen konnte. Ich bewegte sie. Zumindest glaubte ich, dass ich es tat, denn in Wirklichkeit, fühlte sich mein Körper noch immer ziemlich steif gefroren an. Und das, obwohl die Temperatur in der Kammer schon deutlich im Plusbereich sein musste. Der dahinschmelzende Smaragdschleier auf der Glasscheibe verriet es.
Ein ohrenbetäubendes Zischen durchdrang die Enge und die Scheibe vor meinem Gesicht glitt zur Seite. Ein von mattgrünem Licht erfüllter Korridor lag vor mir und ich wunderte mich plötzlich darüber, wie ich vergessen konnte, dass ich anderthalb Jahre in aufrechter Position geschlafen hatte. Kleine Motoren lösten die Bandagen an meinen Gliedern.
»Bitte begeben Sie sich zum Check-Up-Terminal, Carl Harding«, sagte die Bord-KI.
Ich war noch ganz benommen und konnte nicht so recht glauben, dass mich der Computer in meiner unerfreulichen Verfassung aus der Kammer entließ. Vorsichtig hob ich mein rechtes Bein und setzte meinen nackten Fuß auf das stählerne Bodenblech. Überrascht stellte ich fest, dass es sich noch kälter anfühlte, als der Boden in der Kryokammer.
Nur bekleidet mit einer Unterhose und einem Unterhemd – beides in jungfräulichem Weiß – schleppte ich mich über den Gang. Einige Meter entfernt, auf der anderen Seite, befand sich ein offener Durchgang, in dem eine undurchdringliche Schwärze lag. Ich nahm meine rechte Hand hoch und sie fühlte sich an, als hätte man Blei an sie gebunden. Mit den Spitzen meiner noch halbtauben Finger kratzte ich mir den Schlaf aus den Augenwinkeln. Ich hörte, wie hinter mir die Klappe der Kryokammer zufuhr.
Auf halber Strecke befand sich linker Hand ein Fenster, dessen Durchmesser meiner Körpergröße entsprach. Es offenbarte mir das schwarze Nichts, das mich während der langen Reise umgeben hatte. Ich sah hinaus. Der Schatten eines matten Himmelskörpers trieb von unten nach oben und ich wusste sofort, dass es das Ziel meiner langen Reise war. Ein zweiter Himmelskörper erschien an der Unterkante des Fensters. Ich wusste, dass er noch Millionen von Kilometern entfernt war. Sein blassrosa Schein und der rote Fleck, der auf ihm wie eine Wunde aussah, verrieten, dass es Jupiter war. Ich konnte nicht sagen, dass ich in diesem Augenblick nicht ergriffen von diesem Anblick war, doch mein Unwohlsein, das zwar allmählich abebbte, hatte mich noch fest im Griff. Es würde noch genug Momente geben, die beiden Himmelskörper zu bestaunen, dachte ich.
Ich sah nach links, dort wo meine Schlafkammer sein sollte und stellte fest, dass sie nicht mehr da war. Stattdessen blickte ich auf finstere, senkrecht verlaufende Streben, die mich an ein Schienensystem erinnerten. Und ehe ich diesen Gedanken weiter ausformulierte, fuhr durch eine Öffnung im Boden eine neue Schlafkammer herauf. Ein eisiger Schleier lag auf der Innenseite der gewölbten Klappe.
Irritiert wankte ich zu der Kammer, streckte eine Hand aus und legte sie auf das Glas. Die Kälte unter meinen Fingerspitzen durchzuckte mich, als hätte ich einen Stromschlag erlitten, doch ich hielt die Hand still. Ich tauchte in meinen Erinnerungen, und so allmählich dämmerte mir, dass ich auf diesem Schiff wohl kaum allein sein konnte. Ich konzentrierte mich auf das, was hinter dem Eisschleier sein musste. Doch ich sah nichts. Nichts außer verschwommener Einsamkeit und ein verzerrtes Spiegelbild. Ein rotes Licht blitzte unerwartet über meinem Kopf auf.
»Bitte begeben Sie sich zum Check-Up-Terminal, Carl Harding.«
Die Stimme klang mit einem Mal erschreckend nüchtern und ich beschloss der Forderung des Computers nachzukommen. Immerhin bestimmte das Ding über mich, zumindest während des Auftauens. Der kurze Korridor führte mich jenseits des Fensters durch den allschwarzen Durchgang, der gerade einmal so breit war, dass meine Schultern die gegenüberliegenden Seiten nicht berührten, in eine kleine Kammer. Die Finsternis ließ von ihr ab, als ich eintrat und schwache LED-Leuchtröhren aufleuchteten. Sie gaben ein c-förmiges Pult und einen ausgeschalteten Monitor preis, der in die Wand eingelassen war. Vor dem Pult stand ein am Boden verschraubter Sitz mit einer erschreckend niedrigen Rückenlehne, und Armlehnen, an deren vorderen Enden silbern glänzende Sensorflächen prangten.
»Willkommen am Check-Up-Terminal«, begrüßte mich die Stimme, als ich mich auf den Sitz geworfen und meine Handflächen auf die Sensoren der Armlehnen gelegt hatte. »Bitte beantworten Sie kurz folgende Fragen. Währenddessen werden wir Ihre Vitaldaten messen, um mögliche gesundheitliche Probleme infolge des Kälteschlafs zu identifizieren.«
»Du machst mir nicht gerade Mut«, murrte ich.
Ehrlich gesagt mochte ich mir gar nicht vorstellen, was mit mir geschehen würde, wenn das System mich für nicht tauglich erklärte, oder irgendwelche Schäden an meinem Körper diagnostizierte. Auf dem schwarzen Bildschirm erschienen irgendwelche grafischen Symbole in grellem Weiß, die mir nichts sagten, von denen ich aber wusste, dass sie mit der Messung meiner Körperdaten zusammenhängen mussten.
»Bitte nennen Sie Ihren vollständigen Namen, Ihr Geburtsdatum, Ihre Körpergröße und Ihren Abflugort.«
Ich seufzte. »Ich heiße Carl Harding, aber warum muss ich dir das sagen, wenn du meinen Namen schon kennst? Mein Geburtstag ist der 1. November 2051 und ich bin 1,83 Meter groß. Abgeflogen bin ich in Hamburg, Helmut-Schmidt-Kosmodrom.«
So langsam fand ich meine Stimme wieder, auch wenn das Pfeifen meiner Lunge noch lange nicht verschwunden war. Mir war aber auch klar, dass ich die Bord-KI in diesem Moment schlecht um ein lungenweitendes Spray bitten konnte.
»Vielen Dank«, sagte die beeindruckend organisch klingende Frauenstimme. »Während des Kälteschlafs haben Sie 15 Kilo an Gewicht verloren. Dies liegt im normalen Bereich. Fühlen Sie sich besonders erschöpft oder bemerken Sie irgendwelche anderen Beeinträchtigungen?«
Ich hielt meinen pfeifenden Atem an und log: »Nein, alles prima.«
Die Bord-KI ließ sich mit einer Antwort mehr Zeit, als ich gehofft hatte. Ich rutschte auf der glatten Kunststoffoberfläche des Stuhls umher und ich spürte bereits eine dünne Schweißschicht auf meiner Oberlippe. Unerwartet fuhr rechts neben mir eine schmale Tür auf, die ich zuvor nicht bemerkt hatte, was bei meiner Verfassung kein Wunder war.
»Sie können jetzt den Ihnen zugewiesenen Platz aufsuchen und sich umziehen«, sagte die Frauenstimme. »Willkommen auf der Evening Star. Heute ist der 5. Oktober 2098, 10:28 Uhr Bordzeit. Wir erreichen Kallisto in etwa 6 Stunden. Das Restaurant und die Shops haben bereits geöffnet. Den Termin zu Ihrer medizinischen Nachsorgeuntersuchung erhalten Sie auf Ihr Intercom. Bitte denken Sie daran, jede Änderung Ihres körperlichen oder seelischen Zustands unverzüglich dem Personal zu melden. Vielen Dank.«
»Restaurant und Shops?«, wiederholte ich.
Die letzten Worte der KI klangen, als hätte sie unsere kurze Beziehung jäh abgebrochen. Nicht, dass ich ihr eine besondere Bedeutung zugemessen hätte, doch der Schmerz einer fast vergessenen Wunde flammte auf und begann tief in mir zu lodern.
Langsam erhob ich mich aus dem Kunststoffstuhl und drehte mich von dem Bildschirm weg. Jenseits der offenstehenden Tür wummerten undefinierbare Geräusche und grelles Licht stach herein. Ich ließ mich davon schlucken, und kaum war ich hindurch, schien es, als legte sich das Licht schwer auf meine geschundenen Atemwege. Das kränkliche Rasseln bei jedem Atemzug schwoll wieder an.
Die Geräusche um mich herum nahmen langsam das Summen eines Bienenstocks an. Zumindest glaubte ich, dass es so in einem Bienenstock klingen musste, denn ich hatte noch nie einen in natura gesehen. Ein Schatten drang von links an mich heran und erschrocken nahm ich meinen Kopf herum.
So bleich wie der hochweiße Fußboden und so abgemagert wie ich mich fühlte, blickte ich in das Gesicht einer bemitleidenswerten Kreatur mit zwei übermüdeten und von tiefen Falten umgebenen Augen.
»‘n Morgen«, nuschelte der schmächtige Mann, der, so wie ich, nur Unterwäsche trug.
Ich war noch immer so überrascht, dass ich ihm nur mürrisch zunickte. Hinter ihm sah ich einen schmalen Durchgang und in der darin wabernden Dunkelheit erkannte ich denselben hässlichen Plastikstuhl, wie den, auf dem ich gerade gesessen hatte.
»Ich würd‘ echt gern die Lady kennenlernen, die dem Bordprogramm ihre heiße Stimme geliehen hat«, sagte der dürre Kerl und zwang sich zu einem kränklichen Lächeln. »Ich hab‘ echt lange geschlafen, Mann.«
Wahrscheinlich erwartete er von mir eine Reaktion. Er hätte lange warten müssen. Das schien er zu ahnen und schlurfte an mir vorüber. Träge folgte ich ihm mit meinem Blick. Wir beide waren auf einem Korridor, der hinter einer gläsernen Trennwand in einen Sammelraum mündete, und was ich dort entdeckte, verschlug mir die Sprache.
Bedächtig folgte ich dem dürren Mann, blickte nach links und rechts, wo ich insgesamt ein ganzes Dutzend schmaler Schiebetüren sah und trat in den sich anschließenden Raum. Mit einem Mal war ich umgeben von Menschen. Einer Menge Menschen. Der hagere Kerl tauchte in die Masse aus Männern und Frauen unterschiedlichsten Alters ein und verschwand aus meinem Blick. Sie alle trugen Unterwäsche.
Es mussten hunderte Personen in dem langgezogenen Raum sein und nicht wenige von ihnen schienen so durcheinander zu sein wie ich. Zwischen ihnen standen etliche Männer und Frauen des Sicherheitsdienstes, Mitarbeiter des medizinischen Dienstes und ein paar Leute der Raumschiffcrew. Sie erkannte ich an den dunkelgrünen Uniformen und je länger ich sie anblickte, desto schneller kamen meine Erinnerungen zurück. Ich wunderte mich plötzlich, wie ich glauben konnte, ich sei allein hier. Der Kälteschlaf musste mein Erinnerungsvermögen beeinträchtigt haben. Über uns flirrten Hologramme, die den Weg zu den Wartebereichen, den Toiletten und den Shops anzeigten. Aber auch welche, die für Zigaretten, Bier und das neue Apple iCom 14 warben.
Mein leerer Magen krampfte und das Pfeifen meiner Lunge schwoll wieder an. Die ganze Szenerie überwältigte mich. Hilflos stand ich vor dieser halbnackten und chaotischen Menschenmenge und da verstand ich, dass ich im Begriff war, in meinem neuen Leben anzukommen.
Und nicht nur ich, sondern auch alle anderen Menschen, die die letzten anderthalb Jahre im Bauch dieses riesigen Raumschiffs geschlafen hatten. In diesem Augenblick war die Evening Star im Landeanflug auf den Jupitermond Kallisto. Dort befand sich die am weitesten von der Erde entfernte Kolonie und wir alle waren ihre neuen Bewohner.
2. Aufbegehren
Ich kann mich noch genau an den Augenblick erinnern, an dem die Klappe des Essensautomaten auffuhr. Das Loch in meinem Magen hatte mittlerweile die Größe des Jupiters angenommen, und trotz der grässlichen Bauchschmerzen verspürte ich unbändigen Hunger. Ich schätze, das war nach den anderthalb Jahren, in denen ich dem Tod näher als dem Leben war, etwas vollkommen Normales.
Obwohl ich wusste, was mich erwartete, war meine Enttäuschung groß, als in der Klappe keine frisch gebackene Pizza lag, sondern eine weiße, rechteckige Kunststoffschüssel. Und in ihr ein halbes Dutzend bunter Aluminiumtütchen.
Ich ging fest davon aus, dass die Dame hinter mir mein Seufzen hörte und auch mindestens zehn der anderen Personen in der Schlange. Ich entnahm die Schüssel, lächelte dem debil grinsenden Smiley auf dem Bildschirm über der Ausgabeöffnung zu, und bahnte meinen Weg durch silberne Geländer zurück zum Eingang der Essensausgabe. Das Summen der Gespräche und das hohle Scheppern des Kunststoffgeschirrs schwollen ab, als ich auf den Hauptkorridor trat.
Es war ein kurzer Weg durch das grell beleuchtete Gewimmel der über 500 Kolonisten. Die meisten von ihnen hatten endlich ihren Sitzplatz in einer der Passagierkabinen gefunden, wo ihre Reisekleidung lagerte, und sich umgezogen. Der Einfachheit halber trugen wir alle enge weiße Hosen und weiße Kapuzenjacken. Mein Gedanke, wir könnten Sträflinge sein, verflog schnell wieder, denn in Wirklichkeit waren wir die Privilegierten hier an Bord.
Heerscharen medizinischen Personals kümmerten sich rührend um diejenigen, die das Auftauen nicht gut verkraftet hatten, die über Schwindel und Kopfschmerzen klagten, oder Schlimmeres. Gleich hinter dem Eingang zu meinem Passagierraum saß am Gang eine Frau, vielleicht zehn Jahre älter als ich, die von zwei Helfern in dunkelblauen Kitteln betreut wurde. Wie eingefroren hockte sie in ihrer Unterwäsche auf dem beigen Polster ihres winzigen Separees und starrte apathisch vor sich hin.
Jeder der Passagiere wusste, dass es beim Kryoschlaf, obwohl seit nahezu vier Jahrzehnten in der interplanetaren Raumfahrt angewandt, noch deutlich Luft nach oben gab, was die Erfolgsquote eines unversehrten Überflugs anbelangte. Keine Reederei des Sonnensystems konnte es sich leisten, nach einem Kälteschlaf zwei Dutzend Tote an Bord ihres Schiffes melden zu müssen. Das erklärte die hohe Anzahl an medizinischem Personal und auch die allgemeinärztliche Untersuchung, die jeder Passagier vor einer Landung durchlaufen musste. Im Schnitt traf es jedoch immer ein paar Unglückliche, welche die Reise nicht lebendig überstanden.
Mein Abteil befand sich in der hinteren rechten Ecke des Passagierraums. Als ich jenseits eines grellen Werbeplakats für einen Haushaltsroboter von Toyota zwischen die etwa brusthohen und mit Kunststoffpflanzen dekorierten Trennwände trat, sah ich neben dem Separee meinen Sitznachbarn.
»Dein Platz, oder?«, brummte er.
Er sah älter aus, als er vermutlich war. Ich schätzte ihn auf etwa 50. Unter seinem dünnen Haar prangten inmitten eines Vollbarts eine aufgedunsene Nase und fleischige Lippen. Und im Gegensatz zu mir schien es, als hätte dieser Mann mit der Statur eines Holzfällers während des Flugs keinen Gramm seines Fetts und seiner Muskeln eingebüßt. Er hatte bereits gegessen, wie die leeren Tüten in seinem Teller verrieten.
Ich nickte ihm zu, stellte mein Essen auf den kleinen Tisch neben meinem Platz und ließ mich in meinen Sitz fallen. Die aufrichtigen Augen des Holzfällers schienen auf eine Antwort zu warten.
»Is‘ lecker?«, fragte ich und blickte auf die Tüten.
»Wenn du auf Pampe stehst, iss.«
Ich riss einen Beutel auf, dessen Produktfoto in knalligen Farben Müsli ankündigte. Die kleine Verpackung sog gierig die Atmosphäre des Passagierraums ein und ich fragte mich, wie viel mein Magen vertragen würde. Nach all den Monaten ohne Essen würde ich die nächsten Wochen erst einmal mit kleinen Portionen zurechtkommen müssen. Nachdem ich die Haferflocken, Kerne und spärlichen Trockenobstanteile in die Schüssel gekippt hatte, fischte ich unter den amüsierten Blicken des Holzfällers die anderen Tüten heraus.
»Ich heiße Maxim«, sagte er.
»Carl.«
In der hellblauen Tüte war Sojamilch, die ich mir beim Aufreißen gekonnt über meine Hose kleckerte. Die übrige Milch goss ich in das Müsli, rührte alles um und packte den dazugehörigen Löffel aus einer anderen Tüte aus.
»Du wirst dort unten einen Schreibtischjob machen, stimmt‘s?« Maxim blickte mich vergnügt an.
»Weatherhill«, antwortete ich und erntete einen erstaunten Blick.
»Wirklich? Du Glückspilz! Die Leute auf der Erde reißen sich um die Jobs bei dem Sicherheitsdienst. Mich verschlägt‘s in einen der Eisbrüche.«
Maxim ließ eine Pause und wartete, bis ich meinen Plastiklöffel in den Mund geschoben hatte. Der Holzfäller hatte nicht gelogen. Das Zeug war wirklich Pampe.
»Aber keinen dieser miesen Jobs«, fuhr Maxim fort. »Du weißt schon. Die armen Schweine an den ganzen Förderanlagen haben es schlimmer als die Knackis in den ganzen Arbeitslagern auf der Erde. Nein, ich werde als Techniker in der Zentrale sein. Ein bisschen kalt vielleicht, aber es gibt gutes Geld für gute Arbeit.«
Ich nickte anstandshalber, ließ meinen Blick über die unechten Pflanzen schweifen und würgte Löffel für Löffel herunter. Nur mühsam schob sich das Müsli in meinen Magen und dort fühlte es sich an, als hätte ich Steine verschluckt.
»Jeder auf der Erde weiß, dass Chan Mining für die gefährlichen Arbeiten Roboter einsetzen könnte, aber so lange Menschen billiger sind, und sich zehnmal mehr Leute auf einen Flug in diese Eiswüste bewerben, als es Plätze im Schiff gibt, wird dieser sozialistische Minenkonzern diese armen Teufel verheizen. Gott!«
Er starrte zur Decke, vermutlich zu einer der warm leuchtenden LED-Lampen. Ich sah auf das Intercom an meinem linken Handgelenk, in der Hoffnung, die Ankündigung zur ärztlichen Untersuchung könnte mich retten.
»Hör zu, Carl. Ich kenne ‘ne Menge mieser Geschichten aus den Eisbrüchen. Das dort unten wird die Hölle für die, die das Wasser fördern oder den Eispanzer abbauen. Das Schlimmste sind nicht einmal die Spalten im Eis, in die man fallen kann oder ein zusammenbrechender Tunnel. Hast du schon einmal von den armen Schweinen gehört, die ein Leck in ihren Anzügen hatten, und deren Blut dadurch zu sieden begonnen hat?«
Ich legte den Löffel mit der Pampe zurück in den Teller und blickte Maxim ernst an.
»Das dort unten ist ein lebensfeindlicher Ort«, schloss er ab. »Aber jemand muss diese Scheiße ja machen. Was treibt dich eigentlich nach Kallisto?«
»Arbeit.«
»Komm schon, Carl. Das glaubst du doch selbst nicht. Du läufst doch vor etwas davon. Ich wette sogar, dass jeder an Bord der Evening Star das tut. Also?«
»Das ist ein bisschen indiskret, findest du nicht?«, sagte ich. »Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht.«
Maxim beugte sich soweit über seine Knie in meine Richtung, dass ich jede Pore und jedes geplatzte Äderchen in seinem Arbeitergesicht erkennen konnte. Seine vollen Lippen inmitten des Vollbarts zogen sich in die Breite und gingen auseinander, sodass ich seine ungepflegten Zähne sah.
»Die Dinge auf der Erde sind scheiße, Carl. Nennen wir die Dinge beim Namen. Mein Haus wurde von Blutsaugern gepfändet, Mann. Ich wurde enteignet. Zum Glück sind meine Kinder schon groß und können für sich selbst sorgen, aber meine Frau …« Maxim seufzte. »Meine Frau hat Angst, dass man uns einsperrt. Du kennst ja diese Geschichten aus den Nachrichten über enteignete Familien, die sie aus dem Land schmeißen wollen. Ein Job auf Kallisto bringt gutes Geld. Also, Carl. Vor was läufst du davon?«
Sekundenlang starrte Maxim mich an. Ein leises Piepen an meinem linken Handgelenk ließ mich innerlich aufatmen. Ich blickte auf den winzigen Bildschirm.
»Die medizinische Untersuchung«, sagte ich und würgte die Reste des Haferschleims herunter. »In 30 Minuten.«
Maxim nickte verständnisvoll. Ich stellte meine Schüssel auf das Tischchen, erhob mich und begab mich zurück auf den Hauptgang.
Für jemanden, der noch nie eine Weltraumreise angetreten hatte, musste das um den Schiffsbug rotierende Passagiermodul der Evening Star wie ein wahr gewordener Architektentraum wirken. Ich musste es wissen, denn meine Ex-Frau war Innenarchitektin.
Trotz der insgesamt 800 Menschen an Bord, gab es ausreichend Platz in den Korridoren, Passagierkabinen und Sozialräumen. Ausformuliert war jede einzelne Sektion mit weich abgerundeten Kunststoffwänden, Glasscheiben über die gesamte Deckhöhe und detailverliebter Kunststoffbegrünung. Das Innenleben dieses 320 Meter langen Raumschiffs sollte sich so organisch wie möglich anfühlen.
Das Intercom an meinem Arm verriet, wohin ich musste. Ich schritt an der geschwungenen Haupttreppe in der Mitte des Moduls vorüber, welche die beiden Hauptdecks miteinander verband. Um mich herum wirkte nichts, als wäre ich über 600 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Passagiere in bester Laune flanierten über das Deck, standen an den zahllosen Terminals neben einer ausgedehnten Scheibe, an der gerade der Jupiter vorüberzog, und riefen vermutlich ihre Mails von Verwandten ab. Werbehologramme und die Neonlichter des gläsernen Eingangs an dem Shop gegenüber der Treppe blinkten und blitzten, als führten sie einen Wettkampf um die meisten Epilepsietoten.
Doch ich sah auch einige Männer und Frauen, die benommen auf den Bänken am Rand saßen und stumpf dem hyperaktiven Treiben folgten. Ich fühlte mich weder wie die Gesunden noch wie die vom Kälteschlaf gebeutelten Menschen, sondern wie ein Beobachter, der alles in sich aufsog.
Die medizinische Station lag am Bug des Passagiermoduls und ich staunte nicht schlecht, als ich auf etwa einhundert Menschen blickte, die in fünf Reihen nebeneinander standen, getrennt durch Stahlgeländer. Jenseits von ihnen lagen fünf Türen, die sporadisch aufgingen, einen Kolonisten ausspuckten und einen neuen verschluckten. Ich prüfte die Angaben auf meinem Intercom und stellte mich in Reihe 2.
Es dauerte geschlagene 20 Minuten, ehe ich an vorderster Stelle stand und während dieser Zeit gelangte ich zu der Erkenntnis, dass selbst die tiefsten Tiefen des unendlichen Alls es nicht vermochten, die Kleinlichkeit menschlicher Eigentümlichkeiten zu unterbinden. Wer auf der Erde konnte von sich behaupten, dass er schon einmal kurz vor dem Jupiter in einer Warteschlage gestanden hatte?
Als die Tür zum Untersuchungsraum auffuhr und ich eintrat, erfasste mich ein längst verloren geglaubtes Gefühl. Die Ärztin an dem ausladenden Tisch vor mir hatte alles, was ich äußerlich an einer Frau schätzte.
Inmitten eines runden Gesichts saß eine aparte Nase, und schulterlanges Haar, das glänzte, als wäre es der sagenhafte Goldschatz El Dorados, gab der etwa 40-Jährigen eine vornehme Aura. Dass sie Medizinerin war, attestierte ihr zudem eine knallharte Analysefähigkeit und einen gewissen Intellekt, der mich ansprach.
»Carl Harding?«, fragte sie routiniert.
Ich nickte.
»Setzen Sie sich. Mein Name ist Natalie Bancroft und ich werde mit Ihnen die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung nach Ihrem Auftauen besprechen.«
»An mir ist nichts abgefroren, falls Sie das meinen«, sagte ich scherzend.
Dr. Bancroft neigte ihren Kopf zur Seite. Dabei fiel ihr eine Goldsträhne über ihre linke Wange. Es wäre atemberaubend gewesen, wenn ihr Blick nicht eindeutig verärgert gewesen wäre.
»Hören Sie, Mr. Harding. Typen wie Sie, habe ich hier reihenweise sitzen. Wir wollen hier Ihre grundlegenden Vitalfunktionen besprechen, welche Sie zu einem Leben in der Kallisto-Kolonie befähigen sollen, und nicht ihr überschäumendes Testosteron.«
Ich schluckte. Ehrlich gesagt, schämte ich mich sogar für meinen schlüpfrigen Scherz. Dr. Bancroft blieb professionell und las von dem im Schreibtisch verbauten Bildschirm die im Bordsystem hinterlegten Stammdaten ab.
»Sie sind 45 Jahre alt, 1 Meter 83 groß, wiegen 72 Kilogramm, haben keinerlei Knochenbrüche oder dergleichen.«
Ihr analytischer Blick schnitt mein Gesicht und ich war nur dazu fähig, mild zu lächeln. Dann sah sie wieder auf den Tisch.
»Ich bin mir nicht sicher, Mr. Harding, ob ich Sie auf Ihre schlechten Lungenwerte aufgrund Ihres Asthma bronchiale ansprechen soll oder nicht.«
Peinlich berührt starrte ich auf meine haarigen Hände und ohne Umschweife begannen Hitze und Kälte eine wilde Schlacht um die Vorherrschaft in meinem Körper.
Dr. Bancroft seufzte: »Wer auch immer Sie für fähig erklärt hat, an dieser Mission teilzunehmen, mir drängt sich der Verdacht auf, dass er Sie wohl nicht leiden konnte.«
»Wie bitte?«, stutzte ich.
»Kein klar denkender Mediziner würde jemanden in Ihrer körperlichen Verfassung so weit raus ins All schicken.«
Die Hitze in mir erlangte die Oberhand. Dr. Bancroft wischte sich mit ihren spitzen Fingern die Strähne aus dem Gesicht.
»Da Ihr Gesamtzustand allerdings recht stabil wirkt, sehe ich von einer intensiveren Nachsorge vor der Landung ab. Da haben wir ganz andere Fälle an Bord, wie sie eventuell bemerkt haben. Was ich Ihnen jedoch empfehle, ist ein wöchentlicher Check-Up nach der Landung auf Kallisto. Und lassen Sie sich ein Spray verschreiben, wenn Sie nicht schon eines mit an Bord geschmuggelt haben.«
Ihre hellen Augen funkelten mich an. Draußen schrie plötzlich jemand und Dr. Bancrofts Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an. Ehe sie etwas sagen konnte, hörte ich Schüsse jenseits der Tür. Ich riss den Kopf herum.
»Verdammt!«, schrie die Ärztin.
Und in diesem Augenblick erklang das schneidende Geräusch zahlloser Alarmsirenen. Etwas ganz in der Nähe schepperte und als ich mich umblickte, sah ich, dass Dr. Bancroft aufgesprungen war. Dabei musste sie den kleinen Bilderrahmen und die durchsichtige Acrylbox mit Stiften und Notizzetteln von ihrem Tisch gestoßen haben. Zögernd erhob ich mich.
»Verschwinden Sie!«, brüllte Bancroft.
Ihre goldenen Strähnen wirbelten wie gierige Flammen vor ihren Augen herum und mit flatterndem Kittel stakste sie um den Tisch, packte mich und schob mich zur Tür. Im Vorbeigehen erkannte ich in dem Bilderrahmen auf dem Boden eine blonde Frau, vor der zwei Kinder hockten.
»Sie …«, stammelte ich. »Sie wollen mich doch nicht nach draußen …«
»Ich weiß nicht, was hier los ist«, erklärte Dr. Bancroft. »Der Sicherheitsdienst kennt die Vorgehensweise in Gefahrensituationen. Ihnen alles Gute!«
Dann stachen ihre feinen Finger auf den Taster an der Tür. Kaum war sie einen Spalt aufgefahren, schlug mir infernales Kreischen entgegen. Kolonisten, die eben noch auf ihre Untersuchung gewartet hatten, kämpften sich aus den Geländern des Wartebereichs heraus. Rotes Alarmlicht jagte über ihre panischen Körper.
Dr. Bancroft gab mir einen Schubs. Sie schloss die Tür, noch ehe ich meine Empörung äußern konnte. Ich stieß mit einem jungen Mann zusammen. Er landete in meinen Armen und sein ausgemergeltes Gesicht gaffte mich wild an.
»Was ist passiert?«, schrie ich gegen die Sirenen an.
»Frag‘ mich nicht!«, keuchte er und machte sich von mir los. »Irgendjemand schießt um sich!«
Der junge Mann stolperte davon und wurde eins mit dem Menschenmeer aus weißer Kolonistenkleidung. Dazwischen erkannte ich mit einem Mal die anthrazitfarbenen Anzüge von Weatherhill. Es waren etwa zehn Männer und Frauen des Sicherheitsdiensts, welche die panische Menge an die Wand zu den Untersuchungsräumen drängten. Jeder von ihnen trug ein M-83-Betäubungsgewehr.
Ein weiterer Schuss fiel, und irrsinniges Schreien folgte. Doch ich war mir sicher, dass keine der Sicherheitskräfte geschossen hatte. Ein Wachmann fiel mir besonders auf und mir war klar, dass es der Teamleiter sein musste. Der Mann asiatischer Abstammung ging mir nur etwa bis zu den Schultern, doch sein verbissener Blick, sein unter Strom stehender Körper und die Waffe in seinen Händen verliehen ihm dennoch eine respekteinflößende Aura.
Mit beeindruckender Schnelligkeit verschaffte er sich einen Überblick über das Chaos, koordinierte seine Leute und baute sich vor den Gittern des Wartebereichs auf. Und als die meisten Kolonisten die Mitte des Raums verlassen hatten, sah ich sie.
Sie waren zu dritt, doch obwohl auch sie weiße Kleidung anhatten, trugen zwei von ihnen Betäubungsgewehre. Ein dritter Mann mit langen dunklen Haaren und kurzem Vollbart stand bereits in der Sicherheitstür, die in den Durchgang zum Hauptkorridor führte. Es sah allen Ernstes so aus, als sei dies ein Aufstand.
Der bärtige Kerl schrie seinen bewaffneten Kompagnons etwas zu. Diese nahmen die Leute von Weatherhill ins Visier und verließen rückwärts schreitend den Warteraum.
»Schaltet eure Waffen auf ›Neutralisieren‹!«, befahl der Chef des Sicherheitsdiensts.
»Aber, Leutnant!«, rief einer der Wachmänner.
Der Leutnant drehte sich zu ihm um. Es schien, als hätte er soeben das Kriegsrecht über dieses Schiff verhängt. Mir schwante Böses.
Ich sah, dass die drei Aufständischen in dem kurzen Korridorabschnitt verharrten. Hinter ihnen, jenseits der zweiten Sicherheitstür standen weitere Wachen von Weatherhill und zielten auf die Angreifer. Mir wurde flau im Magen.
Die anderen Passagiere und ich saßen hier fest, denn der einzige Zugang, über den man den Wartebereich der medizinischen Sektion erreichte, war der, in dem diese Terroristen hockten. Uns blieb nichts anderes übrig, als diesem grauenhaften Schauspiel bis zu seinem bitteren Ende beizuwohnen. Dabei hatte ich nicht das geringste Interesse, ein Blutbad mitzuerleben.
»Das sind bestimmt welche von den Zwangsarbeitern«, hörte ich eine angsterfüllte Stimme aus der Menge. »Die wollen bestimmt irgendwelche Forderungen durchsetzen.«
»Bleiben Sie alle zurück«, befahl der Leutnant. »Wir werden die Aggressoren neutralisieren.«
»Lasst uns laufen!«, fauchte der bärtige Aufständische aus dem Korridor. »Wir haben nichts getan und haben den verdammten Anspruch auf einen unabhängigen Anwalt!«
Für gewöhnlich war ich nicht der Kerl, der mutig in der ersten Reihe stand und Ansagen machte. Um ehrlich zu sein, war dies auch ein Grund, der dazu veranlasst hatte, die Erde zu verlassen. Doch nun stand ich mit dem Rücken an der Wand, im wahrsten Sinne des Wortes und mir ging der Arsch auf Grundeis. Mir und vermutlich den 50 bis 70 Zivilisten, die zusammen mit mir in dieser Scheiße steckten.
Die ganze Sache war kurz davor, vollkommen aus dem Ruder zu laufen, dabei sah ich eine Möglichkeit für eine gewaltfreie Lösung dieses Konflikts. Warum sahen die Wachen von Weatherhill sie nicht?
Wie von einer fremden Macht beseelt, trat ich vor. Mein Herz donnerte mit der Kraft eines Vorschlaghammers gegen meinen Brustkorb. In kleinen Schritten entfernte ich mich aus der sicheren Menge, bis ich nur noch eine Armlänge von dem Leutnant entfernt war.
Ich räusperte mich. »Ich …«
Sein Kopf jagte herum und seine konzentrierten Augen sahen zu mir auf. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bevor er mir befehlen konnte, wieder zurückzugehen, sagte ich leise: »Die Drei stehen in einem Sicherheitsmodul.«
Der Leutnant antwortete: »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass uns das hilft.«
Ich schluckte, doch ich beharrte auf meiner Meinung. »Das wird uns helfen. Glauben Sie mir, ich werde diesen Job für das Zutrittssystem auf Kallisto machen. Wenn Sie die beiden Zugänge schließen, sitzen die in der Falle, und wenn Sie das über die Hauptsteuerung regeln, muss hier keiner sterben.«
Der vergrämte Mund des Leutnants verzog sich noch ein bisschen mehr, doch dann – kaum merklich – nickte er mir zu. Er hob langsam seine rechte Hand und legte sie unauffällig an sein Ohr. Ich hörte, dass er der Leitstelle auf der Brücke gerade im Flüsterton befahl, die übergeordnete Steuerung des Zutrittssystems anzuzapfen und von der Brücke aus die Türen des Korridorabschnitts zu verschließen.
Danach nahm der Leutnant seine Hand langsam wieder runter. All das hatte zwar nur Sekunden gedauert, doch mir war es wie Minuten vorgekommen. Während dieser Zeit hatten sich die drei Aufständischen in dem Durchgang in Stellung gebracht, bereit, jeden Angreifer mit Waffengewalt abzuwehren.
Die Luft war zum Schneiden dick und ich betete insgeheim, dass die dort oben schnell handelten, bevor irgendjemand in dieser Sektion die Nerven verlor.
Ich zuckte, als die Türen plötzlich zusammenfuhren. Aus dem Inneren des Korridormoduls hörte ich wütende Schreie. Ein Schuss fiel, doch die Türblätter fuhren beharrlich aufeinander zu.
Überrascht sah ich, wie der langhaarige Mann durch den schmalen Spalt der Tür sprang. Noch bevor sie komplett geschlossen war, zückte er ein Messer. Als wäre er der Teufel persönlich, stürmte er auf den Wachmann zu, der ihm am nächsten war. Dieser war so perplex, dass er eine Millisekunde zu lange zögerte. Der Aufständische packte ihn, presste den Wachmann mit dem Rücken an seine Brust und hielt ihm das Messer an die Kehle. Das Betäubungsgewehr baumelte nutzlos vor seinem Bauch.
»Nein, verdammt!«, brüllte der Leutnant.
»Noch einmal!«, wütete der langhaarige Mann. »Lasst uns frei oder der Wichser geht drauf!«
Die Wachfrauen, die ihrem Kameraden zur Hilfe eilten, stoppten augenblicklich. Der Leutnant riss sein Gewehr hoch und brüllte: »Liu! Wang! Nehmt ihm das Messer ab!«
Die Frauen wechselten hektische Blicke und näherten sich dem Geiselnehmer, als wäre er eine Bombe, deren Zünder einen Bewegungsmelder besaß. Der Wachmann unter der Klinge seines Messers presste von Todesangst durchtränkte Gebete aus sich heraus. Ich sah, dass Blut seinen Hals herabrann.
Der Leutnant hielt sein Gewehr oben. Er würde nicht nachgeben, ehe er alle Unruhestifter beseitigt hatte.
Die Frauen stürmten los und packten den Angreifer. Die Geisel fiel zu Boden, hielt sich ihren Hals. Der Aufständische wehrte sich nach Leibeskräften und er schaffte es, die Frauen von sich abzuschütteln. Er war frei.
Der Leutnant zögerte keine Sekunde und drückte ab. Berstend, als würden Mikrometeoriten die Außenhaut des Schiffs durchlöchern, jagten die Projektile aus seiner Waffe. Der Aufständische hatte keine Chance auszuweichen. Die Munition hämmerte in seinen Brustkorb. Er brüllte, zuckte unter den Einschlägen und glitt aus.
Die zusehenden Kolonisten schrien vor Entsetzen. Der Aufständische schlug mit dem Kopf gegen den scharfkantigen Rahmen der Sicherheitstür und landete ungebremst auf dem weißen Boden. Mit weit aufgerissenen Augen lag er in der schnell größer werdenden Lache seines eigenen Bluts, und es sah beinahe so aus, als versuchten seine Lippen finale Worte zu formen. Es brauchte nur Sekunden, ehe ihre verzweifelten Bewegungen und das Zucken seines Brustkorbs aufhörten.
Erst jetzt vernahm ich die Schmerzensschreie des verletzten Wachmanns. Nur kurz nahm ich meinen Blick von dem blutbesudelten Körper und sah, dass er auf dem Boden hockte. Seine Kameraden um ihn herum. Auch unter ihm breitete sich eine dunkle Lache aus. Ich sah Dr. Bancroft und andere Leute, welche die Sicherheitskräfte beiseite drängten und den Verletzten aufhoben.
»Na, schön«, rief der Leutnant harsch. »Wir sperren den Bereich ab. Bis zur Landung wird es keine medizinischen Untersuchungen mehr geben. Vorher sehen wir zu, dass die Ratten in den Bunker kommen.«
Er nahm die rechte Hand wieder an sein Ohr und bewegte fast lautlos seine Lippen. Dabei huschte sein Blick durch den Raum, kontrollierend, ob die Lage ruhig blieb. Als er mich entdeckte, kam er näher und blickte mir fest in die Augen.
»Sie sehen, dass man mit Terroristen nicht verhandeln kann. Trotzdem, danke für den Tipp. So konnten wir Schlimmeres verhindern.«
Ich nickte, obwohl ich mir in diesem Augenblick kaum Schlimmeres vorstellen konnte, als auf die Leiche eines Menschen blicken zu müssen. Ich hatte keine Zweifel daran, dass dieser Mann mit besonderer Aggression gegen den Sicherheitsdienst vorgegangen war. Doch rechtfertigte es, dass er erschossen wurde? Vor den Augen unschuldiger Zivilisten?
»Was wird mit denen geschehen?«, fragte ich.
»Unten auf Kallisto blüht denen eine lange Haftstrafe. Mindestens.« Der Leutnant sagte dies, ohne dass sich der festgefrorene Ausdruck seines Gesichts änderte.
»Aber …«, stammelte ich. »Ich habe noch nie von vollstreckten Todesurteilen auf Kallisto …«
»Tja«, fiel mir der Leutnant ins Wort. »Willkommen in der Wirklichkeit. Sobald Sie bei Weatherhill starten, werden Sie schnell begreifen, wie die Dinge da unten laufen.«
Ich blickte zu der verschlossenen Tür, hinter der die beiden verbliebenen Aufständischen auf ihr Schicksal warteten. »Woher wussten Sie, dass …«
»… dass wir Terroristen an Bord haben?«, beendete der Leutnant meine Frage. »Wir haben vor einer Viertelstunde einen Funkspruch vom Kosmodrom Paris erhalten. Die dortigen Sicherheitsbeamten haben uns darüber in Kenntnis gesetzt, dass die IDs einiger von dort gestarteten Passagiere gefälscht seien.«
Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde kämpften Kälte und Hitze um meinen Körper und ich fühlte, wie meinen Bronchien im Begriff waren, von einer unsichtbaren Macht zusammengepresst zu werden. Ich nickte nur und wandte mich vom Leutnant ab.
Meine Knie wurden weich und ich suchte Halt an einem der Geländer. Die aufgeregten Gespräche der entsetzten Kolonisten drangen in den Hintergrund. Auch Dr. Bancroft und ihre Kollegen, die in blutverschmierten Kitteln den verletzten Wachmann davontrugen und die harschen Kommandos von Weatherhills Männern und Frauen.
Meine Vorfreude über meinen Neuanfang auf Kallisto war plötzlich einer unbestimmten Angst gewichen, denn ich erkannte, dass das, was ich auf Kallisto plante, mir schneller zum Verhängnis werden konnte, als mir lieb war. Denn dass ich auf dem Eismond ein neues Leben begann, war nur die halbe Wahrheit.
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