
Kapitel 1 “Zerfall”
Paz Morales versiegelte das Schott. Durch die winzige Scheibe warf sie einen letzten Blick auf den dahinterliegenden Korridor mit den grünen Kontrollleuchten an den Einbuchtungen, die zu den verwaisten Wohnungen führten. Erneut überkam sie ein Gefühl der Unruhe. In weniger als einer halben Stunde würde sich dort die tödliche Kälte des Alls ausbreiten, und das Wohnmodul, das hunderten von Bewohnern der Torrance Station Raum zum Leben geboten hatte, würde ein für alle Mal verloren sein.
»Skibs, Deck 12 ist dicht«, sprach Paz in ihren Kommunikator.
»Verstanden«, antwortete eine raue Männerstimme. »Von den Teams auf Deck 10 und 14 stehen die Rückmeldungen noch aus.«
Nervös lies Paz von dem Schott ab und wischte mit ihrem Zeigefinger über das kleine Kommunikationsgerät an ihrem rechten Ohr, um die Stimme lauter zu stellen.
»Kannst du das wiederholen, Skibs?«, fragte Paz.
»Ich wusste nicht, dass du schwerhörig bist, Morales«, antwortete Skibs. »Ich warte noch immer auf die Rückmeldungen von Nergüi und Silva.«
»Warum zur Hölle sind die noch nicht fertig?«, wollte Paz wissen.
»Sag du mir das, Morales. Du leitest den Einsatz.«
Paz‘ Blick fiel auf Octavia, die neben ihr stand. Der drängende Blick ihrer Kollegin und die darin schimmernde Angst machten Paz noch unruhiger.
»Na schön, ich kümmere mich darum«, knirschte Paz.
»Alles klar«, antwortete Skibs dröge. »Das System zeigt für das Wohnmodul eine Hüllenstabilität von 54 Prozent an. Du weißt, was das heißt, oder?«
Paz kontrollierte noch einmal die Statusmeldungen am Terminal neben dem Schott, um sich zu vergewissern, dass der Zugang abgeriegelt war. Dann warf sie Octavia einen ernsten Blick zu und marschierte los. Sie hörte am Hallen der Schritte, dass ihre Kollegin ihr folgte.
»Hör zu, Skibs. Ich weiß, ihr Leute von der Leitstelle gebt gern mit eurem umfangreichen Erfahrungsschatz an. Ich bin gerade dabei, der ganzen Station den Arsch zu retten. Wenn du also nicht willst, dass Torrance in einer halben Stunde vollständig auseinanderfliegt und zum Grab von 300000 Menschen wird, weil wir dieses Wohnmodul nicht völlig abgeschottet haben, dann hör bitte auf, mich zu nerven!«
»So war das nicht gemeint, Morales. Ich …«
Paz schaltete ihren Kommunikator aus, hielt kurz inne und sah sich um. Octavia stand hinter ihr im Halbdunkel des nur von der Notbeleuchtung erhellten Gangs. Wie Paz trug auch sie einen der verschlissenen grünen Overalls. Ihre besorgten Augen glühten inmitten ihrer dunklen Haut.
»Du hast doch nicht gerade die Leitstelle abgewürgt?«, fragte Octavia.
»Die gehen mir auf die Nerven. Natürlich weiß ich, dass eine Hüllenstabilität von 54 Prozent der Albtraum eines jeden Technikers ist.«
Paz blickte nach vorn, wo im Zentrum des Kreuzungspunkts der Treppenturm lag. Hinter den bodenlangen Fenstern am Rand des Raums lag das All, schwer und schwarz. Ein winziger Punkt strahlte dort inmitten endloser Schwärze, hell und vertraut.
»Langsam wird der Platz eng hier oben«, sagte sie.
»Aber zur Erde können wir nicht, Hübsche. Sieh es ein«, antwortete Octavia. »Niemand kann die Strahlung länger als ein paar Wochen überleben.«
»Aber wo sollen wir hin? Das ist das dritte Wohnmodul in zwei Jahren. Wir haben keinen Platz mehr und die anderen Stationen melden sich einfach nicht. Der Krieg gegen die Föderation hat schon so viele Menschenleben gekostet …«
»Vergiss es«, unterbrach Octavia sie mit ihrer tiefen Stimme. »Guck dich an. Du bist fünfunddreißig und körperlich fit. Selbst ich, mit meinen sechzig und meiner kaputten Lunge, bin immer noch besser dran als viele der Bewohner von Torrance. Wenn du von hier abhaust, bringt das niemandem etwas. Torrance braucht eine erfahrene Gravitationstechnikerin wie dich. Komm, lass uns das Modul dicht machen, bevor hier alles hochgeht.«
Octavia hatte recht. Es war müßig, sich Gedanken um etwas so Unmögliches zu machen wie eine Flucht zur Erde. Jetzt war es wichtiger herauszufinden, warum die anderen Teams noch immer nicht mit dem Verschluss der letzten Decks fertig waren.
Paz‘ Blicke huschten über die verdreckten Bildschirme des Leitsystems, die über den Treppenaufgängen angebracht waren. Dort flackerte das Datum des heutigen Tages; es war der 26. April 2216 kurz vor vier Uhr am Nachmittag. Noch vor zwei Tagen hatte es keinen Hinweis auf einen irreparablen Schaden an dem Wohnmodul gegeben.
Paz rieb die Finger in ihren verschwitzten Handflächen, dann strich sie ihren schulterlangen Zopf in den Nacken. Neben dem Datum waren sowohl die angrenzenden Decks ausgewiesen als auch wichtige Punkte innerhalb des Moduls, wie etwa Sammelstellen und Erst-Hilfe-Stationen.
»Na schön«, seufzte sie. »Octavia, du gehst runter auf Deck 10 und siehst zu, dass du Nergüi und Wallace auftreibst. Wenn du sie findest, schaffst du deinen Hintern schnellstmöglich hier raus, verstanden?«
Octavia nickte ihr zu und Paz spürte, wie der Boden unter ihren Füßen plötzlich und kaum merkbar zu vibrieren begann.
»Ich sehe zu, dass ich Silva und Perez erwische. Kein Wunder, dass sie Skibs‘ Anweisungen nicht verstanden haben. Die Beiden sprechen ja nur Spanisch.«
Ein nahes Knacken, das wie ein Bersten in der stählernen Konstruktion klang, drang durch die Stille.
»Es ist zu spät«, zitterte Octavia.
»Ist es nicht. Die Plasmahülle ist noch stabil genug.«
»Du weißt selbst, wie schnell die Stabilitätskurve nach unten geht, wenn 42 Prozent unterschritten werden.«
Paz schwieg, denn sie wusste es. Octavia nickte Paz noch einmal zu, klopfte ihr zum Abschied auf die Schulter und lief schnaufend die Treppen hinab. Einen kurzen Augenblick schaute Paz am Treppenturm vorbei zu der Schleuse, die aus dem maroden Wohnmodul herausführte. Sie war bereits verschlossen, für den Fall, dass das Evakuierungsteam es nicht rechtzeitig schaffen würde, die einzelnen Teilbereiche zu versiegeln. Dann lief sie los und stieg die großzügigen Treppen hinauf, was eine anstrengende Sache war, da jedes Deck der Torrance Station inklusive der technischen Zwischendecks ganze sechs Meter hoch war.
Als sie auf Deck 14 ankam, kontrollierte sie zuerst die vom Treppenturm abgehenden Korridore, und stellte fest, dass bei zwei von dreien die Schotts bereits geschlossen waren. Auch die Tür, die aus dem Wohnmodul herausführte, war dicht, und hinter ihrem schmalen Fenster sah Paz die besorgten Gesichter einiger Evakuierungshelfer. Sie harrten im sicheren Teil des unbeschädigten Nachbarmoduls aus. Paz‘ Blick fiel auf den Korridor, über dessen Durchgang »14.2« angeschrieben war. Das Schott des Korridors stand noch offen.
»Silva? Perez? Estás aqui?«, rief Paz beunruhigt in die Stille hinein.
Einen Augenblick lang lauschte sie, doch als keiner der beiden Techniker antwortete, stürmte Paz durch das Schott auf Korridor 14.2, vorbei an den dunklen Einbuchtungen, von denen aus schmale Gänge zu je zwanzig Apartments führten. An jedem der Zugänge blinkte eine grüne Kontrollleuchte, als Zeichen dafür, dass dieser Teilbereich vollständig evakuiert war.
»Silva! Perez! Dónde estás?«
Etwas sagte Paz, dass den Beiden etwas widerfahren sein musste, unabhängig von Skibs‘ Unfähigkeit, mit ihnen zu kommunizieren. Sie schätzte, dass sie noch etwa zehn Minuten hatte, bevor die Hüllenstabilität ihren kritischen Zustand erreichen würde.
Während sie den Korridor hinunterrannte, betete Paz, dass Octavia das andere Team fand und mit ihm rechtzeitig ins Nachbarmodul gelangen konnte. Sie erreichte die Hauptkreuzung des Korridors. Intuitiv bog sie rechts ab und fand hinter zwei evakuierten Teilbereichen einen, an dem die Kontrollleuchte orange blinkte.
»Mist!«
Kurz sah sie sich um, dann betrat sie den beengenden Gang. Durch die sechseckige Bauweise des Teilbereichs, in dem je vier Wohneinheiten an fünf der Seiten lagen, führte der Korridor in schwer einsehbaren Geraden einmal im Kreis. An dessen Außenseite lagen die schmalen Türen zu den Apartments, an der Innenseite die Versorgungsräume dieses Blocks.
Der Boden unter Paz‘ Füßen vibrierte erneut und Paz wusste, dass sie keine zehn Minuten mehr haben würde. Sie bog um eine Ecke und entdeckte Silva und Perez. Doch schnell fiel Paz auf, dass etwas nicht stimmte. Alejandro Silva lag auf dem Gitterboden und presste seine Hände auf den Bauch, während Nina Perez daneben kniete und ihn festhielt.
»Silva!«, entfuhr es Paz.
Nina Perez blickte erschrocken auf und starrte sie panisch an. Dann deutete sie, dass Paz verschwinden sollte, und die Gravitationstechnikerin sah, dass Perez‘ Hand blutig war. Sie wollte gerade fragen, was geschehen war, da fiel ihr Blick auf die offenstehende Wohnungstür. In dem dunklen Durchgang zu Apartment 238 erkannte Paz den Schatten einer Person. Und den Lauf einer Pistole, der auf sie gerichtet war.
»Keinen Schritt näher«, rief eine harsche Frauenstimme.
Paz dachte keine Sekunde daran, näherzukommen. Sie zitterte am ganzen Leib und ihr Blick raste über Silva. Blut quoll unter seinen Händen hervor. Er brauchte einen Arzt. Jetzt! Sie richtete den Blick wieder zu der dunklen Gestalt im Wohnungseingang.
»Nehmen Sie die Waffe runter!«, hauchte Paz.
Die Person trat aus dem Schatten. Es war eine ausgemergelte Frau um die vierzig, mit strähnigem Haar und tiefen Augenringen. Die Hand, in der sie die Waffe hielt, zitterte.
»Wir evakuieren das gesamte Modul, so wie wir es gestern angekündigt haben«, erklärte Paz ruhiger, als sie sich fühlte. »Wir sorgen dafür, dass alle Bewohner in Sicherheit sind.«
»Einen Scheiß tust du!«, fauchte die Frau.
»Es … es ist zu Ihrer Sicherheit«, sprach Paz. »In ein paar Minuten wird die Plasmahülle des Generators brechen. Ich habe mir gestern den Gravitationsgenerator des Moduls angesehen. Und glauben Sie mir: Wenn die Möglichkeit bestanden hätte, ihn zu reparieren, hätte ich das getan!«
»1200 Menschen, verdammt!«, rief die Frau aufgebracht. »1200 Menschen mehr, die in diese verfluchten Auffanglager gesteckt werden! Glaubst du, ich weiß nicht, wie es dort zugeht!«
»Es gibt keine andere Möglichkeit«, erklärte Paz.
»Nein? Wann werden die überzähligen Bewohner endlich auf andere Stationen verteilt?«
»Ich … ich weiß es nicht«, log Paz. »Sie wissen selbst, dass wir seit Wochen keinen Kontakt zu den anderen Stationen haben.«
Silva stöhnte. Irgendwo auf dem Hauptkorridor zerbrach etwas. Paz lief die Zeit davon!
»Morales!«, rief Nina Perez mit Angst in ihrer Stimme. »Silva tiene que ver a un médico!«
»Kommen Sie mit!«, flehte Paz.
»Einen Scheiß werde ich«, knurrte die Frau, und hinter ihr erkannte Paz zwei kleinere Schatten. »Sieh meinen Kindern ins Gesicht und versprich ihnen, dass sie eine Zukunft haben werden!«
Paz schwieg. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
»Das werden sie nämlich, verdammt noch mal, nicht haben!«, schrie die Mutter auf einmal. »Sie werden vor die Hunde gehen! Wenn sie nicht verhungern, wird man sie totprügeln! Ich kenne die Geschichten aus den Lagern! Ich bleibe hier! Und sollte mir einer von euch zu nahekommen, werde ich eure verdammten Schädel wegpusten!«
Der Boden erzitterte.
»Dann werden Sie sterben«, erklärte Paz so sachlich wie möglich.
Die Frau zielte mit der Waffe noch immer auf Paz. Langsam trat sie auf den Korridor und Paz‘ Herz donnerte heftig gegen ihre Rippen. Ein lauter Knall ließ sie plötzlich zusammenzucken.
Doch es war nicht die Waffe, die einen Schuss absetzte, sondern ein Belüftungsrohr, das über der Wohnungstür abgeplatzt war. Die Mutter war für einen Augenblick abgelenkt. Paz überwand ihre Todesangst und stürzte sich auf ihre Angreiferin.
Mit ganzer Kraft drückte Paz den Arm, der die Pistole hielt, zur Decke. Augenblicklich löste sich ein Schuss. Die Frau schrie und wehrte sich nach Leibeskräften. Doch Paz war stärker, gelangte hinter sie und nahm sie in den Würgegriff. So, wie sie es in den Selbstverteidigungskursen gelernt hatte.
Aus der Wohnung hörte Paz die verzweifelten Schreie der Kinder und plötzlich bemerkte sie Nina Perez neben sich. Sie half Paz, die Mutter zu fixieren, indem sie ihren linken Arm auf dem Rücken verdrehte. Die Frau fluchte und spuckte. Paz gelangte an die Waffe, bog die Finger der Angreiferin auf. Das alles geschah in nur wenigen Augenblicken, während gleichzeitig die heiße Abluft des gebrochenen Rohrs auf sie herabströmte.
Paz hatte die Pistole in ihrer Hand und baute sich vor der Frau auf. Ihre Kinder knieten weinend am Eingang des Apartments und mussten mit ansehen, wie ihre Mutter mit den Füßen nach Paz trat, während sie von Nina Perez festgehalten wurde.
»Hören Sie!«, rief Paz eindringlich. »Wir müssen sofort hier raus, sonst sterben wir alle! Perez, tenemos que salir de aqui inmediatamente!«
Das Zittern des Bodens wurde zu einem Beben. Paz machte einen Ausfallschritt, um nicht zu stürzen, und im gleichen Moment fiel die Notbeleuchtung aus.
»Mierda!«, schrie Perez.
Das Licht flackerte kurz auf und ging wieder an. Paz wusste, dass dies der kollabierende Gravitationsgenerator war, der nicht mehr imstande dazu war, die Plasmahülle der Gravitationsplatten aufrecht zu erhalten. Und ein Verlust der Schwerkraft auf Modulebene konnte nicht durch die Generatoren der anderen Module von Torrance ausgeglichen werden. Sämtliche abmildernden Maßnahmen hatten versagt und so nahm das Unglück nun unaufhaltsam seinen Lauf. In ein paar Minuten, würde der Generator aufgrund der wirkungslosen Gegenmaßnahmen, die er autonom einleitete, explodieren.
Die Frau hatte aufgehört, sich zu wehren und suchte nun den Blick zu ihren Kindern. Paz sah in das verschlissene Gesicht einer Mutter, die nur das Beste für ihren Nachwuchs wollte.
»Es ist vorbei«, sagte Paz heiser.
Noch immer bebte der Boden.
»Nehmen Sie ihre Kinder und kommen Sie mit.«
Der Blick der Frau war teilnahmslos, doch sie nickte. Unkoordiniert suchte sie Halt am Türrahmen und winkte ihre Kinder heran. Zwei Jungen zwischen sechs und zehn Jahren kamen heraus und fielen ihrer Mutter um die Beine.
Paz steckte die Waffe in eine freie Schlaufe ihres Arbeitsgürtels und half Silva auf die Füße. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und er stotterte unverständliches Zeug, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Paz packte ihn unter den Armen.
»Das wird ganz schön knapp!«, sagte Paz zu sich selbst.
Nina Perez schob die Mutter und ihre Kinder den engen Korridor hinunter, als die Notbeleuchtung erneut zu flackern begann.
»Dios en el cielo! Salvanos!«, flehte die Evakuierungstechnikerin.
Paz hörte, wie es in der Tiefe des Wohnmoduls knackte, zischte und brach. Das stückweise Zittern wurde zu einem kontinuierlichen Schwanken, und erschwerte ihnen die Flucht. Paz war zwar körperlich so gesund, dass sie es allein in einer Minute in die Sicherheit des dritten Zentralmoduls geschafft hätte, doch Silva war mindestens so hinüber wie dieses Wohnmodul.
Seine Füße stolperten über den Gitterboden. Der Techniker hustete, und Paz sah im zuckenden Licht des sterbenden Moduls, wie noch immer Blut aus der Schusswunde auf den Boden tropfte, und sich in den Ritzen des Bodengitters festsetzten.
Als sie auf den Hauptkorridor kamen und die Kreuzung erreichten, waren Nina Perez und die Mutter mit ihren Kindern schon am Schott 14.2. Perez drehte sich versichernd zu ihr um.
»Vamos! Yo me encargare!«, stöhnte Paz.
Ob sie es wirklich schaffte, konnte sie nur hoffen. Paz hatte noch nie jemanden sterben lassen und das hatte sie auch heute nicht vor. Sie legte einen Zahn zu und Silva half so gut es ging. Sie durften jetzt auf keinen Fall stolpern. Der Kommunikator an Paz‘ Ohr piepte plötzlich.
»Paz! Wo bleibst du?«
Es war Octavia. So außer sich hatte Paz sie noch nie gehört.
»Ich komme!«, blies Paz zwischen ihren Zähnen hervor. »Es gab einen Zwischenfall. Silva wurde angeschossen. Er braucht sofort einen Arzt!«
»Wo bist du, verdammt? Auf Ebene 10 löst sich schon die Schwerkraft auf!«
»Gleich sind wir hier raus!«, ächzte Paz und sie hatte das Gefühl, dass sie Schott 14.2. einfach nicht näherkamen. »Eine Minute noch!«
»In einer Minute bist du tot!«, rief Octavia.
Paz spürte, wie jede ihrer Bewegungen immer mehr Kraft forderte, denn auch auf Deck 14 schwand allmählich die Schwerkraft. Sie sah, wie Nina Perez und die Familie durch die offene Schleuse jenseits des Treppenturms huschten. Sie waren bereits in Sicherheit.
»Octavia, sag ihnen, sie sollen die Schleuse offen lassen!«, presste Paz hervor.
Der Boden unter Paz‘ Füßen hob sich plötzlich an. Sie blickte nicht zurück, aber sie brauchte nicht viel Fantasie, um zu wissen, dass sich in diesem Augenblick die Struktur des Korridors zu verformen begann. Geräusche von berstendem Stahl, ersten Explosionen und implodierenden Wohnräumen bestätigten dies. Der Generator war am Ende seines Lebens angelangt und riss nun alles in den Tod.
Paz und Silva passierten das Schott zum Treppenturm, und mit einer einzigen Bewegung schlug die Gravitationstechnikerin auf das daneben befindliche Terminal, woraufhin die Tür mit einem brutalen Zischen zufuhr. Obwohl Paz wusste, dass diese Aktion nutzlos war, weil das Wohnmodul in wenigen Augenblicken durch die Explosion des Generators und das Vakuum des Alls zerrissen werden würde, glaubte sie, dass Silva und sie so ein paar Sekunden gewonnen hatten.
Im nervösen Blinken der roten Alarmleuchten hinter der Schleuse schrien die Techniker wild durcheinander, winkten und hielten sich gleichzeitig fest, weil die Auflösung der Schwerkraft sich bereits auf das Zentralmodul auswirkte. Paz und Silva kämpften sich am Treppenturm vorbei, kamen aber nur quälend langsam voran. Paz schätzte die Schwerkraft auf noch ein Sechstel. Der Treppenturm zerbrach, gerade als sie daran vorbei waren, und im Augenwinkel sah Paz, dass die Traversen und Stufen wie in Zeitlupe einknickten und niederstürzten.
Die letzten Meter waren die Hölle. Das Heulen der Sirenen klingelte in Paz‘ Ohren, und je näher sie der Schleuse kamen, umso leichter wurde Silva in ihrem Arm und umso mehr Kraft musste sie aufwenden, um voranzuschreiten. Immer länger blieben ihre Füße vom Boden fern, während es hinter ihnen unheilvoll grollte.
Paz streckte ihren freien Arm aus und griff nach der Haltestange am Schleuseneingang. Mit ganzer Kraft zog sie sich hinein, nahm Silva mit. Kaum war sie ins grelle Neonlicht des Schleusenraums getaucht, drehte sie sich um und betätigte den Taster am Bedienterminal. Ächzend fuhr die Tür zusammen und ließ die Gravitationstechnikerin immer weniger von dem anschwellenden Chaos des auseinanderreißenden Wohnmoduls sehen. Schließlich hörte sie ein dumpfes Klacken und Paz atmete auf. Die Tür hatte sich in letzter Sekunde geschlossen.
Augenblicklich nahm die Schwerkraft wieder zu. Unter Silvas Gewicht, ging Paz in die Knie. Mehrere Techniker hinter dem zweiten Schleusentor stürmten zu ihnen, packten den verletzten Techniker und Paz, und zogen sie aus dem Schleusenraum heraus. Das Grollen jenseits der verschlossenen Tür steigerte sich zu einem Sturm aus Bersten und Fetzen, als Paz im Arm zweier Männer über die Schwelle ins Zentralmodul stolperte. Sie hörte, wie jemand das zweite Schleusentor schloss.
»Wohnmodul vollständig evakuiert!«, hörte sie eine Frauenstimme.
»Octavia!«
Paz riss sich aus den Armen ihrer Retter los. Mit einem Nicken bedankte sie sich bei den Männern, welche die blaugrauen Anzüge des Ordnungsdienstes trugen. Das wilde Blinken der Alarmleuchten hatte aufgehört, als Paz ihr Gleichgewicht wiederfand und inmitten unzähliger Helfer, die sich weit in den großen Korridor hinein verteilten, ihre Kollegin sah. Paz schwankte ihr entgegen.
»Das war knapp«, stellte Octavia fest.
Paz antwortete ihr nicht, sondern sah sich um. Eine Gruppe Sanitäter trug Silva durch die Menschenmenge fort und am Rand des Gangs saß die Mutter mit ihren beiden Kindern. Sie wurde von Mitarbeitern des Ordnungsdienstes betreut. Paz erkannte Nina Perez, die etwas abseits bei Nergüi und Wallace stand. Sie wurde augenblicklich von mehreren Technikerinnen, des physikalischen Dienstes verdeckt, die ihre Apparaturen zur Schadensmessung mitten auf dem Gang aufbauten. Paz drehte sich um und ging auf die Schleuse zu, durch die sie gerade gekommen war. Das beunruhigende Grollen ließ sie wissen, was gerade dahinter geschah.
Auf dem Terminal blinkten rote Warnhinweise. Als sie durch die schmale Scheibe blickte, sah sie hinter dem zweiten Tor, wie dort ein Sturm aus losen Dingen wirbelte. Alles was von dem explodierenden Gravitationsgenerator zerrissen wurde, verlor sich nun in den Weiten des Alls. Sie erkannte Teller, Decken, Kleidung, aber auch Kabel, Rohre, Abdeckplatten, Gitter des Korridorbodens. Einen kurzen Augenblick lang hatte Paz einen freien Blick auf die Halle, in dem sich der Treppenturm befunden hatte. Sie schien sich zu entfernen, so als ob die Reste des Moduls von der Torrance Station getrennt worden waren.
»Modul vollständig abgekoppelt«, hörte sie aus dem aufgeregten Stimmengewirr heraus.
In diesem Augenblick spürte Paz eine Hand auf ihrer Schulter. Kurz zuckte die Gravitationstechnikerin zusammen, doch dann erkannte sie Octavia an ihrer Seite. Ihre Kollegin hatte es trotz ihres Alters und trotz ihres Asthmas geschafft.
»Das war‘s«, sagte Paz mit brüchiger Stimme. »1200 Menschen mehr, die ihre Wohnung verloren haben.«
»1200, die du gerettet hast«, sprach Octavia leise. »Besser sie sind hier als dort im All.«
»Sie müssen auf die anderen Stationen, bevor die Lage eskaliert und wir hier einen Aufstand erleben.«
»Skibs hat gesagt, die Leitstelle hat immer noch nicht herausgefunden, warum keine der anderen Stationen zurückfunkt. Nicht einmal eines der Schiffe dort draußen meldet sich.«
Paz sah Octavia an. Sie wirkte abgekämpft.
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Paz. »Irgendwas ist da faul. Was, wenn es einen Großangriff der Föderation gegeben hat?«

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